Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: Gesundheitskompetenz„Die Gesundheitskompetenz ist ungleich in der Bevölkerung verteilt“

Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken, ist seit Gründung der Allianz für Gesundheitskompetenz 2017 ein wichtiges Thema der Prävention und Gesundheitsförderung. Mit den in 2018 veröffentlichten Handlungsempfehlungen des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz (NAP) soll sie nachhaltig verbessert werden. Über den aktuellen Stand sprechen wir mit  Dr. Lennert Griese, Universität Bielefeld und Referent der 22. BVPG-Statuskonferenz.

Herr Dr. Griese, Sie haben auf der BVPG-Statuskonferenz zur aktuellen Datenlage der Gesundheitskompetenz in Deutschland referiert. Wie wird Gesundheitskompetenz definiert, welche Definitionsvarianten werden in der Wissenschaft diskutiert? 

Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, wenn man bedenkt, dass heute weltweit mehr als hundert Definitionen von Gesundheitskompetenz bzw. Health Literacy – so wird das Konzept außerhalb Deutschlands bezeichnet – vorliegen. 

Dennoch hat sich in Europa und speziell auch in Deutschland in den letzten zehn Jahren eine Definition durchgesetzt, die unter Gesundheitskompetenz die nötigen kognitiven und sozialen Fähigkeiten eines Menschen dazu versteht, gesundheitsrelevante Informationen ausfindig zu machen, sie zu verstehen, beurteilen und anwenden zu können. 

Im Zentrum dieser Definition, die übrigens auf die erste internationale Studie zur Gesundheitskompetenz, HLS-EU (Health Literacy Survey Europe), aus dem Jahr 2012 zurückgeht, steht also der Umgang mit Gesundheitsinformationen, konkret das Finden, Verstehen, Beurteilen und Umsetzen von Gesundheitsinformationen. Zugleich werden mit dieser Definition Bezüge zur Partizipation und auch zu Empowerment hergestellt, denn Ziel ist immer die aktive informierte Entscheidungsfindung, sei es im Rahmen der Krankheitsbewältigung, der Prävention oder Gesundheitsförderung. 

Ein wichtiger Aspekt, der leider nicht explizit in der Definition des HLS-EU genannt wird, aber stets mitgedacht werden muss, ist, dass mit Gesundheitskompetenz immer auch die Rahmenbedingungen angesprochen sind, in deren Abhängigkeit Gesundheitsinformationen genutzt werden und Gesundheitskompetenz erworben wird: Stehen mir nur bedingt Gesundheitsinformationen über ein bestimmtes Gesundheitsproblem zur Verfügung oder sind diese so kryptisch formuliert, dass ich sie nicht verstehen kann, wird sich dies auch negativ in meiner Gesundheitskompetenz niederschlagen. Gesundheitskompetenz entsteht also erst im Zusammenspiel sowohl individueller Fähigkeiten als auch der System- und Informationsbedingungen, denen ich ausgesetzt bin. 

Dieses sehr umfassende, relationale, Verständnis von Gesundheitskompetenz beruht auf einer langen Historie und wurde mit der Zeit immer wieder weiterentwickelt. Auch deswegen wird es übrigens von Don Nutbeam und später auch von Rima Rudd als „evolving concept“ bezeichnet.

Das Konzept fand erstmals in den 1970er Jahren durch Scott K. Simonds im Rahmen der Gesundheitsbildung in Schulen Erwähnung. Verstärkte Aufmerksamkeit hat es aber erst rund 20 Jahre später bekommen, durch die großen angloamerikanischen Alphabetisierungsstudien der 1990er Jahre, wie dem National Adult Literacy Survey (NALS). Denn er zeigte, dass ein Großteil der US-amerikanischen Bevölkerung nicht über ausreichende Schreib- und Lesefähigkeiten verfügte. Dies führte rasch zu der Frage, welche Auswirkungen damit für die Krankheitsbewältigung und Gesundheitserhaltung einhergehen, konkreter, was passiert, wenn ich den Beipackzettel meiner Medikamente nicht richtig lesen oder verstehen kann. Erste Studien untersuchten daran anknüpfend die Gesundheitskompetenz, richtiger die Health Literacy einzelner Bevölkerungsgruppen – dies jedoch beschränkt auf rein funktionale Fähigkeiten, etwa Gesundheitsinformationen lesen oder schreiben zu können.


Welche Veränderungen ergeben sich in der Definition oder dem Begriffsverständnis beziehungsweise haben sich bereits aufgrund aktueller Entwicklungen ergeben?

Erst durch wichtige Erweiterungen, wie durch die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 1998, die erstmals ein bis dahin stark medizinisch geprägtes und defizitorientiertes Verständnis von Gesundheitskompetenz durch eine auf Gesundheit und Ressourcenförderung zielende Lesart ersetzte, oder durch die von Don Nutbeam definierten drei Ebenen, die dem Konzept eine funktionale, interaktive und kritische Komponente zuschreiben, weitete sich das Verständnis zusehends. Gerade letztere, die kritische Gesundheitskompetenz, die Menschen einen hinterfragenden, differenzierten Umgang mit Gesundheitsinformationen ermöglicht, ist heute angesichts der wachsenden Zahl an Information und auch an Fehl- und Desinformation besonders wichtig.   

Seither sind viele weitere Definitionsvorschläge entstanden, so auch die zu Beginn aufgeführte Definition des HLS-EU, mit der eine systematische und summierende Bündelung bereits existierender Definitionen vorgenommen wurde. 

Heute beobachten wir, dass vor allem die Seite des Systems und der Gesundheitsorganisationen verstärkt an Bedeutung gewinnt, sowohl in der Gesundheitskompetenz-Forschung allgemein als auch in der Definitions- und Konzeptentwicklung. So hat sich in den vergangenen Jahren das Konzept der Gesundheitskompetenten Organisation (GKO) etabliert, das die Rolle der Gesundheitsorganisationen als Produzent und Vermittler von Gesundheitsinformationen hervorhebt. Das U.S. Department of Health and Human Services schlägt in diesem Zusammenhang sogar eine zweigeteilte Definition vor, in der die persönliche Gesundheitskompetenz ausdrücklich von der organisationalen Gesundheitskompetenz unterschieden wird. 

Dazu passt, dass neuerdings auch die Gesundheitskompetenz der Gesundheitsprofessionen und -berufe stärker in den Fokus gerückt ist; denn sie spielen als wichtige Informationsinstanz der Bevölkerung eine zentrale Rolle sowohl im GKO-Konzept als auch für die Förderung der Gesundheitskompetenz ihrer Patientinnen und Patienten. Auch hier wurde kürzlich ein neues Konzept und Messinstrument vorgestellt, das nicht, wie bisher in der Forschung üblich, auf die persönliche Gesundheitskompetenz der Gesundheitsprofessionen/-berufe abhebt, sondern auf deren Fähigkeiten, die Gesundheitskompetenz von Patientinnen und Patienten zu fördern. Auch hier hat sich also in gewisser Weise ein Perspektivwechsel vollzogen.


Wie gestaltet sich die aktuelle Datenlage zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung? Ist ein Trend erkennbar? Wenn ja, wie genau sieht dieser aus und welche Schlussfolgerungen und Empfehlungen lassen sich daraus ableiten?

Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland ist nicht sehr gut ausgeprägt. Darauf deuten die vorliegenden Studienbefunde der letzten Jahre hin. Zudem konnte die Studie HLS-GER 2, die wir an der Universität Bielefeld durchgeführt haben und die Teil des WHO Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy ist, aufzeigen, dass sich die Gesundheitskompetenz im Zeitvergleich der Jahre 2014 und 2020 verschlechtert hat. Konkret hat sich der Anteil geringer Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung von rund 54 Prozent auf etwa 60 Prozent erhöht.  

Hinzu kommt, dass die Gesundheitskompetenz ungleich in der Bevölkerung verteilt ist und bestimmte sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen, aber auch Menschen im höheren Lebensalter oder Menschen mit mehreren chronischen Erkrankungen, kurz Menschen, die im besonderen Maße auf das Gesundheitssystem und Gesundheitsinformationen angewiesen sind, über eine vergleichsweise geringe Gesundheitskompetenz verfügen.

In der Summe machen diese Befunde sehr deutlich, dass die Förderung der Gesundheitskompetenz nach wie vor eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe darstellt. Bevölkerungsgruppen, die besonders große Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen haben, sollten dabei besondere Beachtung erhalten. 

Dies gilt auch für bestimmte Teilbereiche der Gesundheitskompetenz, wie die navigationale oder digitale Gesundheitskompetenz, denn sie sind noch einmal deutlich schlechter ausgeprägt als die allgemeine Gesundheitskompetenz.


… und wie steht es um die Gesundheitskompetenz der Gesundheitsprofessionen?

Wie erwähnt, kommt für die Stärkung der Gesundheitskompetenz auch den Gesundheitsprofessionen und -berufen, besondere Bedeutung zu. Denn nach wie vor bilden sie die wichtigste Informationsquelle für Patientinnen und Patienten, begleiten diese zum Teil über viele Jahre und genießen hohes Vertrauen. Zugleich sind auch für sie die Anforderungen an die Aneignung und Vermittlung von Gesundheitsinformationen anspruchsvoller geworden. 

Allein durch die mit der Digitalisierung einhergehende Expansion an Wissen und auch an Fachinformationen müssen die Gesundheitsprofessionen/-berufe heute mehr denn je in der Lage sein, sich auf dem neuesten Stand des aktuellen Wissens zu halten und dieses auf ihr professionelles Handeln übertragen – sie sind also auf ein umfassendes Wissensmanagement angewiesen. 

Doch dies allein ist nicht ausreichend. Zusätzlich müssen sie die gefundenen Fachinformationen so an ihre Patientinnen und Patienten vermitteln können, dass diese verstanden, beurteilt und letztendlich für das eigene Gesundheitsverhalten und auch die gemeinsame Entscheidungsfindung über Gesundheits- und Versorgungsfragen herangezogen werden können. Dies alles erfordert professionelle Gesundheitskompetenz, die – wie eine Studie der Universität Bielefeld und der Hertie School Berlin mit der Stiftung Gesundheitswissen zeigt – in vielen Bereichen optimierungsfähig ist.


Inwiefern?

Zwar stellt sich die professionelle Gesundheitskompetenz der befragten Gesundheitsprofessionen/-berufe – hier Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegende – insgesamt recht positiv dar, dennoch stehen sie bei etlichen Aufgaben vor Herausforderungen. Dazu gehört etwa der Umgang mit fehl- oder falschinformierten Patientinnen und Patienten, das Einordnen statistischer Befunde oder die Beurteilung der wissenschaftlichen Grundlage (Evidenz) von Informationen. Aber auch Patientinnen und Patienten dabei zu unterstützen, die Vertrauenswürdigkeit speziell digitaler Gesundheitsinformationen einzuschätzen, wird als besonders schwierig bewertet. 

Damit ist klar: Um die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken, benötigen auch die Gesundheitsprofessionen und -berufe eine bessere Gesundheitskompetenz und – so ein weiteres wichtiges Ergebnis der Studie – bessere Qualifikations- und Rahmenbedingungen.


Welche weiteren Daten zur Standortbestimmung der Gesundheitskompetenz sind relevant?

Vergleicht man die vorliegende Datenbasis zur Gesundheitskompetenz in Deutschland mit der vor einigen Jahren, lässt sich feststellen, dass sie sich stark erweitert hat: Mittlerweile verfügen wir über repräsentative Daten zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland, wir können grob abschätzen, wie sich die Gesundheitskompetenz in den letzten Jahren verändert hat und wie sich die Gesundheitskompetenz während der Corona-Pandemie darstellte. 

Zugleich ermöglichte es die Messung von sogenannten Teil-Literacies, Aussagen über bestimmte Teilbereiche, wie die Digitale oder Navigationale Gesundheitskompetenz zu treffen – und es liegen Untersuchungen zur Gesundheitskompetenz von einzelnen Bevölkerungsgruppen vor, etwa von Menschen mit Migrationshintergrund, von Kindern und Jugendlichen, von Menschen mit chronischen Erkrankungen und neuerdings auch zur professionellen Gesundheitskompetenz. 

Trotz des Zuwachses an Forschungsaktivitäten wird es zukünftig wichtig sein, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland systematischer als bisher zu erforschen. Dies wird auch im Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz (NAP) und in einem seiner acht Strategiepapiere gefordert. Dazu zählt, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und einzelner vulnerabler Bevölkerungsgruppen wiederholend zu messen, d.h., zu einem Monitoring zu kommen, so dass eine Beobachtung und Abschätzung der Entwicklung der Gesundheitskompetenz über Jahre möglich wird und auch damit die Wirkung möglicher gesellschaftlicher Veränderungen auf die Gesundheitskompetenz und auch von Interventionen zur Verbesserung dieser analysiert werden können. 

Zudem zeichnet sich ein zunehmender Bedarf an regionalen Daten ab, die gerade für eine lokale Standortbestimmung sowie die Entwicklung datenbasierter und zugleich regional angemessener Interventionen wichtig sein dürften. Ähnliches gilt für die Erforschung der organisationalen und professionellen Gesundheitskompetenz, denn gerade sie verspricht wichtige Erkenntnisse für die Entwicklung eines gesundheitskompetenten Gesundheitssystems, seiner Organisationen sowie Akteurinnen und Akteuren.


Die Fragen stellte Simone Köser, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).


Lesen Sie dazu auch:

Weitere Informationen zum Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz (NAP) finden Sie unter www.nap-gesundheitskompetenz.de und www.uni-bielefeld.de.

Interview mit Kristine Sørensen, Präsidentin der International Health Literacy Association: „Health literacy champions are in demand!“

Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann: „Die strukturelle Gesundheitsförderung findet zu wenig Beachtung“.

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Dr. Lennert Griese | Gesundheitswissenschaftler an der Universität Bielefeld, Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK). Dort forscht er zu Themen der Gesundheitskompetenz und ist an nationalen und internationalen Studien zur Gesundheitskompetenz beteiligt. Er ist Teil des WHO Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy (M-POHL) und des Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz (NAP).

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: Arbeitswelt„Betriebliche Gesundheitsförderung muss auch bei den Ursachen für Belastungen ansetzen“

Wie wir arbeiten, hat sich in den letzten Jahren in vielen Bereichen grundlegend verändert. Mit der fortschreitenden Digitalisierung und dem Wandel der Arbeitswelt hin zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft haben sich neue Arbeitsformen entwickelt. Mit Dr. Elke Ahlers, Leiterin des Referats „Qualität der Arbeit“ der Hans-Böckler-Stiftung und Referentin auf dem Präventionsforum 2023, haben wir über Risiken und Potenziale neuer Arbeitsformen und den damit verbundenen Herausforderungen für die Prävention und Gesundheitsförderung (BGF) gesprochen.

Frau Dr. Ahlers, im Mittelpunkt des Präventionsforums 2023, das die Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG) im Auftrag der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) durchführte, stand das Thema „Anforderungen an Gesundheitsförderung und Prävention in der Arbeitswelt von morgen: menschengerecht, barrierefrei und klimasensibel“. Sie haben mit einem Fachvortrag Ihre Expertise beim Präventionsforum eingebracht. Worüber haben Sie referiert?

Ich habe über die Potenziale neuer Arbeitsformen gesprochen – und dabei vor allem die Perspektive der Mitarbeitenden in den Vordergrund gestellt. Also was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich von ihrer Arbeit wünschen und was nötig ist, um Arbeit gesundheitsförderlich zu gestalten.


Welche Bedürfnisse und Werte sind Mitarbeitenden mit Blick auf ihr Arbeiten wichtig?

Einerseits wirken etwa mit der Digitalisierung zurzeit verschiedene soziale und wirtschaftliche Einflüsse auf den Arbeitsmarkt ein, die die Arbeitsbedingungen beeinflussen. Zugleich haben die Beschäftigten z. B. aufgrund des demografischen Wandels mit zunehmender Frauenerwerbstätigkeit und alternden Belegschaften veränderte Wünsche an ihre Arbeit.

Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind gut ausgebildet und arbeiten sehr gern, aber sie wollen flexibler, selbstbestimmter und kürzer arbeiten – also mit geringerer Wochenarbeitszeit. Zudem würden die Menschen gerne sinnstiftender arbeiten und sich mit eigenen Ideen beteiligen. Und natürlich wünschen sie, dass sie selbst und ihre Arbeit wertgeschätzt werden – was gleichzeitig ein wichtiger Faktor für die Gesundheit der Beschäftigten ist.


Wie reagiert die Arbeitswelt auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden?

Haupttreiber für den Wandel der Arbeitswelt sind die Digitalisierung und die Flexibilisierung, aber auch, wie genannt, die höhere Bildung der Beschäftigten und die veränderte Beschäftigtenstruktur mit einem höheren Altersdurchschnitt, immer mehr Frauen, jungen Eltern und der großen Gruppe der Babyboomer, die bald in den Ruhestand geht.

Die Arbeitswelt reagiert auf diese ökonomischen, technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und Anforderungen mit vielfältigen und flexibleren Arbeitsarrangements. Sie werden vielfach unter dem Sammelbegriff New Work subsumiert – obwohl dieser Begriff eigentlich ein eigenes philosophisches Arbeitskonzept meint.

In der Praxis sind mit dem umgangssprachlich verwendeten Sammelbegriff New Work zumeist folgende Arbeitsformen gemeint:

  • hybrides Arbeiten, also die Kombination aus Home-Office und Anwesenheit im Betrieb, auch bekannt als orts- und zeitflexibles Arbeiten,
  • Projekt- oder Teamarbeit, ein bekanntes, sich ausbreitendes Konzept, in dem verstärkt selbstorganisiert und ergebnisorientiert gearbeitet wird,
  • agiles Arbeiten, das von den Mitarbeitenden eine hohe Flexibilität, schnelle Handlungsfähigkeit und die Bereitschaft verlangt, innovativ zu denken und inzwischen branchenübergreifend Einzug in die Unternehmen findet.

All diesen Arbeitsformen sind das selbstorganisierte und eigenverantwortliche Arbeiten gemein. Man findet sie vor allem in höherqualifizierten Angestelltenberufen mit einem hohen Digitalisierungsgrad. Zwar gibt es keine Daten darüber, wie viele Menschen in solch flexiblen Arbeitsarrangements tätig sind, jedoch lässt sich ein Trend feststellen, dass sich das selbstorganisierte und flexible Arbeiten mit all seinen Chancen und Risiken branchenübergreifend ausbreitet.


Welche Chancen und Risiken bergen die neuen Arbeitsformen für die Gesundheit der Mitarbeitenden?

Mit Blick auf die Chancen und Risiken zeigt sich eine ambivalente Situation: Einerseits bieten die neuen Arbeitsformen enormes Potenzial für gutes und gesundes Arbeiten. Dazu gehören Rahmenbedingungen, wie man sie sich generell für alle Beschäftigten wünschen würde, etwa:

Und wie sieht die Umsetzung in der Praxis aus?

Modellhafte Vorstellungen und die betriebliche Realität liegen oft weit auseinander. Flexible Arbeitsarrangements brauchen ein betriebliches Setting, um funktionieren zu können. Dazu gehören ausreichende Personalkapazitäten, eine vertrauensvolle Unternehmenskultur und ein angemessenes Führungsverhalten.

In vielen Betrieben sind Personalengpässe wegen des Fachkräftemangels an der Tagesordnung, aber ebenso, weil Personaldecken betriebswirtschaftlich zu knapp kalkuliert sind. Die neuen Arbeitsformen können wegen der hohen Eigenverantwortung und Selbstorganisation dann leicht dazu führen, die Mitarbeitenden zu überfordern, z. B. durch Mehrarbeit, Arbeitsintensivierung und Entgrenzung von Arbeits- und Freizeit.

Ebenso können die hohe Identifikation der Beschäftigten mit ihrer Arbeit, aber auch Teamdruck sowie das Bedürfnis der Beschäftigten, hochwertige Arbeitsergebnisse zu präsentieren, zu Überlastung führen. Bei agiler Arbeit können überdies regelmäßige „Sprints“, in Form einer etappenbasierten Erfolgskontrolle von Zwischenergebnissen, Druck und Angst erzeugen. Auch verlieren Beschäftigte bedingt durch hohe kundenorientierte Arbeitsanforderungen an Arbeitszeitsouveränität.

So können die wunderbaren Attribute Flexibilität und Agilität bei fehlenden Personalressourcen wie ein Bumerang als Risiken und Belastungen für die Beschäftigten zurückschwingen – und somit Treiber für Entgrenzung, Überforderung und Verschleiß sein.


Wie können Prävention und Gesundheitsförderung auf die von Ihnen genannten Herausforderungen reagieren?

Für die Prävention ist es schwierig, dieses Dilemma, in dem die Beschäftigten sich befinden, aufzugreifen. Wir wissen, dass Beschäftigte mit Blick auf Überforderung und Selbstausbeutung für Akteure der betrieblichen Gesundheitsprävention schwer anzusprechen sind: diese Beschäftigten sehen sich in der Sachzwanglogik von Termindruck, Personalengpässen, Kundenorientierung und wechselnden arbeitsorganisatorischen Anforderungen gefangen und betrachten dadurch die Überforderung in der Arbeit als ein sehr individuelles Problem des Versagens. Sie selbst lösen das Dilemma eher durch Mehrarbeit als durch die Einsicht, dass hier präventive Maßnahmen hilfreich wären.


Was ist konkret zu tun, um gesundheitlichen Folgen vorzubeugen?

Zunächst geht es darum, bei den Ursachen der gesundheitlichen Risiken anzusetzen – und das ist vielfach die Überlastung mit Blick auf Arbeitsmenge, Leistungsanforderungen und Zeitdruck.

Daher sollten Prävention und Gesundheitsförderung stärker als bisher die betrieblichen und individuellen Ressourcen in den Blick nehmen und sich fragen, ob diese ausreichen, um die Arbeitsanforderungen gesundheitsschonend auszuüben:

  • Ist die Arbeitsmenge mit den vorhandenen Personalbudgets auf Dauer wirklich zu bewältigen?
  • Sind Zeitvorgaben realistisch, um die Arbeitsaufgaben zu bewältigen?
  • Sind Leistungsanforderungen, wie permanente Serviceorientierung und Konkurrenzfähigkeit zu anderen Unternehmen, auf Dauer realistisch?
  • Ist die soziale Unterstützung durch Führungskräfte oder Kollegen ausreichend?
  • Gibt es Bedarf an Weiterbildung oder Anpassungsqualifizierung und haben die Beschäftigten genug Zeit, sich in der Arbeitszeit so weiterzubilden, dass sie ihren Aufgaben tatsächlich gewachsen sind?

Neben der Frage der Ressourcen sollten die Beschäftigte über ein Empowerment lernen, auf Augenhöhe mit Führungskräften zu sprechen. Dies ist wichtig, um bei den Führungskräften oder dem Management nicht nur ihre Potenziale, sondern zur Vorbeugung von gesundheitlichen Risiken auch selbstbewusst und vorausschauend die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit aufzuzeigen.

Notwendig ist also eine Sensibilisierung für krankmachende Arbeitsbedingungen, für Zusammenhänge zwischen (überfordernder) Leistungskultur im Team, Arbeitsorganisation, Arbeitsmenge, Konkurrenzdruck und dauerhafter Überforderung.


Welche Rahmenbedingungen sind notwendig, damit die Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz umgesetzt werden kann?

Beschäftigte brauchen rechtlich verbindliche und angstfreie Partizipationsmöglichkeiten sowie Regulierungen, die sie dabei unterstützen, selbst Einfluss auf Arbeitsmenge und -gestaltung nehmen zu können. Zu einem veränderten Miteinander im Unternehmen sind auch Führungskonzepte erforderlich, die stärker auf Vertrauen und Wertschätzung statt auf Kontrolle setzen.

Daher sollte auch ein prozessorientiertes betriebliches Gesundheitsmanagement stärker als bisher mit dem Management und der damit verbundenen Leistungskultur in dem Unternehmen verzahnt sein, um zu hinterfragen, ob Leistungserwartungen und Ressourcenausstattung realistisch sind.

Prävention muss schon im Management und in der Organisation mitgedacht werden. Es kann nicht sein, dass ein Unternehmen einerseits mit höchster Wettbewerbskultur, Flexibilität und Kosteneffizienz wirbt und die Beschäftigten andererseits mit dem entstehenden hohen Arbeitsdruck allein lässt.


Was genau ist zu tun?

Zu diesem prozesshaften Gesundheitsmanagement gehören regelmäßige und partizipative Gefährdungsbeurteilungen mit dem Ziel, Arbeitsbelastungen zu erheben und gemeinsam nach Ursachen zu suchen, um Belastungen über dieses Verfahren schrittweise zu reduzieren. Dafür ist es sinnvoll, die Beschäftigten viel stärker in die Beurteilung der Arbeitsbelastungen einzubeziehen.

Es braucht mehr organisatorische Gestaltungslogik in der betrieblichen Gesundheitsprävention. Präventionskonzepte, die übergreifend die individuelle und die betriebliche Ebene berücksichtigen, sind zukunftsfähig, wenn sie:

  • die Leistungskulturen berücksichtigen, in deren Kontext die Beschäftigten arbeiten, wie Wettbewerbsdruck oder enge Deadlines,
  • durch eine gesundheitsförderliche Führung begleitet werden und
  • die Beschäftigten sensibilisieren und befähigen, auch Eigenverantwortung für ihre Arbeit und ihre Gesundheit zu übernehmen und – wenn nötig – Grenzen zu setzen.


Die Fragen stellte Inke Ruhe, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).

Lesen Sie dazu auch:

Beitrag von Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der BVPG, zum Positionspapier „Weiterentwicklung des Handlungsfeldes Prävention und Gesundheitsförderung“.

Interview mit Prof. Dr. Mathilde Niehaus, Leiterin der Abteilung Arbeit und berufliche Rehabilitation an der Universität zu Köln und Keynote-Speakerin des Präventionsforums 2023: „Mehr Forschung und mehr Partizipation!“.

Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung erfahren Sie hier.

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Dr. Elke Ahlers | Seit 2013 Leiterin des Referats „Qualität der Arbeit“ am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung mit den Schwerpunkten: Wandel der Arbeitswelt, Betriebliche Gesundheitsprävention, Flexibilisierung von Arbeit, selbstorganisierten und ergebnisorientierten Arbeitsformen sowie der Vermeidung von gesundheitlichen Risiken in der flexiblen Arbeit.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt:Arbeitswelt„Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt: mehr Forschung und Partizipation!“

Am 14. September 2023 hat das Präventionsforum, das die Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG) im Auftrag der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) durchführt, stattgefunden. Im Mittelpunkt der diesjährigen Veranstaltung stand das Thema „Anforderungen an Gesundheitsförderung und Prävention in der Arbeitswelt von morgen: menschengerecht, barrierefrei und klimasensibel“.

Die Arbeitswelt befindet sich im Umbruch. Treiber neuer Arbeitsformen sind der Wertewandel in der Gesellschaft, die demographische Entwicklung, aber auch Digitalisierung, Globalisierung und Krisen wie die COVID-19-Pandemie oder der Klimawandel. All dies stellt Mitarbeitende und Arbeitgeber vor neue Herausforderungen.

Was das für die Prävention und Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt bedeutet, darüber haben wir mit Prof. Dr. Mathilde Niehaus, Leiterin der Abteilung Arbeit und berufliche Rehabilitation an der Universität zu Köln und Keynote-Speakerin des Präventionsforums 2023, gesprochen.

Frau Professorin Niehaus, Sie haben den einführenden Fachvortrag beim 8. Präventionsforum gehalten. Wie lässt sich der Wandel in der Arbeitswelt wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge beschreiben? Wie wirken sich diese Veränderungen auf Mitarbeitende und Unternehmen aus?

Hilfreich für die Auseinandersetzung ist ein pragmatischer empirischer Zugang. Wir können uns Daten anschauen aus der Europäischen Union. Was hat sich in den letzten zehn Jahren in der Arbeitswelt verändert? Hier ist der im Mai 2023 erschienene Bericht der European Agency for Safety and Health at Work sehr aufschlussreich. Folgende Trends des Wandels in der Arbeitswelt werden mit Hilfe von großen Befragungen der Erwerbsbevölkerung oder spezifischer Akteure in Unternehmen ermittelt (Occupational safety and health in Europe – state and trends 2023):

  1. Wandel von Industrie zu Dienstleistungssektoren
  2. Zunahme der Arten von Arbeit, die nicht an den Standort des Arbeitgebers gebunden sind
  3. Weniger klare Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehungen
  4. Eine größere Vielfalt an nicht standardisierten Vertragsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern
  5. Veränderungen der Struktur der Arbeitskräfte
  6. Die Verschiebung der erforderlichen Qualifikationen zu höheren Qualifikationen
  7. Die Alterung der Arbeitnehmer
  8. Technologische Entwicklungen wie die Digitalisierung aber auch die Einführung von Biotechnologie und anderen neuen Verfahren.

Neben der Flexibilisierung der Arbeitszeit und des Arbeitsortes wirken sich die Digitalisierung und die Einführung der künstlichen Intelligenz in der Arbeitswelt aus. Zukünftig werden also höhere Qualifikationen benötigt. Die Beschäftigtenstruktur ändert sich hinsichtlich der Zusammensetzung: Es wird mehr Frauen, mehr ältere Beschäftigte – was gleichzeitig auch mehr Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen bedeutet – und mehr Personen mit Migrationshintergrund geben. Diese veränderte Beschäftigtenstruktur gilt es bei Prävention und Gesundheitsförderung zu berücksichtigen.


Und was bedeutet dies für die Gesundheit der Mitarbeitenden? Welche besonderen Herausforderungen oder vielleicht auch Chancen ergeben sich dadurch?

Als größte Herausforderung wird der Klimawandel angesehen. Hier werden gerade die vulnerablen Gruppen u. a. im Sinne von Intersektionalität (Alter, Gender, gesundheitliche Beeinträchtigungen bzw. Behinderungen, niedriger sozialer Status) anfälliger sein für psychische und physische Gesundheitsprobleme. Auch von den negativen Auswirkungen der Extremereignisse wie Wirbelstürme oder Überschwemmungen sind diese Gruppen besonders betroffen.

Chancen werden insbesondere im Sinne von Co-benefits gesehen, beispielsweise in Maßnahmen zur Förderung aktiver Mobilität auf dem Weg zur Arbeit oder pflanzenbasierte Ernährung in der Kantine. Sie wirken sich sowohl positiv auf die Gesundheit als auch positiv mit Blick auf das Klima aus.

Die Daten der European Agency for Safety and Health at Work zeigen, dass Risikofaktoren wie wiederholte Hand- und Armbewegungen und auch das Bewegen schwerer Lasten sowohl in der Industrie als auch in Dienstleistungssektoren zunehmen. Klassische ergonomisch belastende Arbeiten haben nach wie vor nicht an Relevanz verloren. Zusätzlich gewinnen Belastungen durch psychische und emotionale Herausforderungen sowie geringere körperliche Aktivität für bestimmte Arbeitskontexte an Bedeutung. Kurz zusammengefasst könnte man die Herausforderung auf die Formel bringen „Von Sicherheitsrisiken zu Gesundheitsrisiken“!


Wo können Prävention und Gesundheitsförderung ansetzen, um den Bedürfnissen der Mitarbeitenden und den Bedarfen der Arbeitgeber gerecht zu werden?

Um im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung voranzukommen, sind alle gefordert: die Politik, die Sozialversicherungsträger, die Gewerkschaften, Führungskräfte, betriebliche Akteure, Beschäftigte und das gesamte soziale Umfeld. Als Wissenschaftlerin spreche ich mich für mehr empirische Forschung sowie für die Einbindung – die Partizipation – von Betroffenen, insbesondere vulnerablen Gruppen, in politische Prozesse und bei der Entwicklung und Gestaltung von Prävention und Gesundheitsförderung aus.


Die Fragen stellte Inke Ruhe, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).

Lesen Sie dazu auch:

Beitrag von Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der BVPG, zum Positionspapier „Weiterentwicklung des Handlungsfeldes Prävention und Gesundheitsförderung“.

Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung erfahren Sie hier.

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Seit 2016 führt die BVPG das Präventionsforum im Auftrag der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) durch. Das Präventionsforum ist eine jährliche Veranstaltung, zu der die NPK bundesweit agierende Organisationen und Verbände einlädt, die sich maßgeblich in der Gesundheitsförderung und Prävention engagieren.

Prof. Dr. Mathilde Niehaus | Seit 2002 Leiterin der Abteilung für Arbeit und berufliche Rehabilitation an der Universität zu Köln. Zuvor ordentliche Professorin an der Universität Wien und Gastprofessorin an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Forschungsschwerpunkte: Gesundheit, Prävention und return to work, Beschäftigungsfähigkeit, Diversity- und Inklusionsmanagement. Aktuelle Projekte: ”Mit Role Models Inklusion in Arbeit stärken”, ”Sag ich´s? – chronisch krank im Job”.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: Gesundheitskompetenz„Health literacy champions are in demand!“

Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und umzusetzen. Warum ist eine hohe Gesundheitskompetenz so wichtig? Wie kann sie erlangt werden? Und welche Rolle spielen dabei die Gesundheitsprofessionen? Kristine Sørensen, Präsidentin der International Health Literacy Association, gibt Antworten.

Health literacy leadership – a new professional qualification?

A health literacy champion is a person or an organization who enthusiastically and relentlessly defends and fights for the cause of health literacy to the benefit of people and societies at largeSørensen, 2021

The growing awareness of the importance of health literacy has increased the interest in mobilizing changemakers who can help facilitate health literacy development of people and communities as well as organizations, strategies, and policies. However, little is still known about the role of the modern day’s health literacy champions, their practice, and virtues.

During history, the term champion has had different meanings. In modern times, a champion is usually envisaged as someone who has won the first prize and raise the trophy above his head. However, centuries ago a champion meant a knight who was fighting on behalf of others, someone who undertakes to defend a cause. The knights swore to defend the weak and to uphold virtues like compassion, loyalty, generosity, and truthfulness. These virtues also matter today, especially when the aim is to leave no one behind with regards to health literacy.


The importance of health literacy for people-centered services

Health literacy concerns the ability to access, understand, appraise, and apply information to manage health when being ill, at risk and wanting to stay healthy. Acknowledging that the response to health literacy issues is crucial to provide people-centered care, a growing number of organizations have begun to address system-level factors to support patients, clients, and consumers in making informed health decisions concerning treatment, prevention and promotion. It has also been recognized that addressing health literacy is an integral feature of delivering culturally and linguistically appropriate services to diverse populations. Essentially, addressing health literacy saves time, costs, and lives.

However, research made it evident that population health literacy limitations are a public health challenge. In response, professionals around the world have got engaged to bridge the gap. Health literacy is measurable and modifiable and taking action can help improve the health and well-being of people and societies. The catalyst of change is not always with the people. Most often, it is the professionals that are acting as change agents and advocate for its dissemination. In this regard, the question becomes apparent whether health literacy leadership is a new professional qualification in the making.


Health literacy leadership as a professional qualification in public health

A professional qualification refers to an advanced vocational credential based on specialized training in a specific profession or area of work. Pursuing a professional qualification can expand the opportunity for achieving a higher salary, qualify for a new position or earn specific recognition. For instance, across the world, several health literacy awards have been gifted to health literacy champions who have provided outstanding results and societal impact. The awards include, for example, the Well-Done Health Literacy Award launched by MSD in Belgium which aims to stimulate best practice-sharing to empower patients, optimize the communication between healthcare professionals and patients and ultimately to safeguard the sustainability of the healthcare system.

Due to the complexity of systems, new health challenges and advancement of technology – the need to be highly skilled and more adaptable is higher than ever before. As an inter-disciplinary skill health literacy is applied in a wide range of sectors. It is becoming a sought-after competence among academics, health professionals of all sorts, and in areas beyond health such as community work, journalism, publishing, IT technology, etc. Moreover, the call for healthcare organizations to meet the needs of the people they serve is spreading and the demand for employees trained in health literacy is therefore growing.


Bringing health literacy qualifications to life

Integrating health literacy as a strategic priority in all organizations requires health literacy training and leadership. Yet, it is not a given that professionals are skilled in conducting health literacy friendly communication and interventions. Health literacy is a professional qualification that needs to be nurtured and developed in professional educational programms and as part of post-graduate training in the workplace. Despite the call to action, only a few educational institutions and universities teaching health programms have so far included health literacy as an integral part of their curriculum. And there are even less opportunities for post-graduate training or workforce development in the field of health literacy. Other barriers include lack of commitment from the management, lack of resources and procedures and policies.

„Health literacy champions are in demand!“ – Kristine Sørensen

The health literacy qualification will only be brought to life when it is integrated into daily practice of the organizations involved in promoting health and well-being. To make a profound change, health literacy needs to be apparent in the boardroom as well as on the work floor. Organizational health literacy can help build a person-centered, evidence-based, and quality-driven organization, however, it requires a substantial change and reform of the organizational thinking.


Recognizing the need for health literacy leadership in organizations

To stimulate the process organizations are encouraged to identify change agents, health literacy champions, who can induce the process and develop it according to the organizations´ focus and context. The health literacy champions can move the agenda forward and explain the necessity to perform a change of practice. It may meet resistance, but mostly, the immediate impact of more content clients and patients also creates more content employees. Staff that helps to make it easier for clients and patients to access, understand, appraise and apply information to manage their health may also find it rewarding to see how an empowered patient will become more active and engaged and take control regarding self-care and needed actions for better outcomes. When patients and providers work in partnerships, it can undoubtedly enhance the success of the patient journey. The health literacy commitment needs to come from champions positioned in the highest levels of the organization to ensure a substantial impact.

Moving health literacy from the margin to the mainstream rarely happens without the engagement of health literacy champions. The challenge in the future is to keep recognizing people who can undertake the role of pushing health literacy to the next frontier through health literacy leadership. Acknowledging the need for the development of health literacy leadership as professional qualification and emphasizing the role of higher education institutions in this process can accelerate the process.


Lesen Sie dazu auch:

Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann: „Die strukturelle Gesundheitsförderung findet zu wenig Beachtung“.

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Kristine Sørensen | Executive advisor on health literacy. She helps leaders improve health literacy by design. She has a background in public health and global health diplomacy and works with the public and private sector as well as civic society to develop health literacy for all. Kristine Sørensen is the president of International Health Literacy Association and chair of Health Literacy Europe.

Weiterführende Literatur:

Brach, C. (2017). The Journey to Become a Health Literate Organization: A Snapshot of Health System Improvement. Studies in Health Technology and Informatics, 240, 203–237. Retrieved from http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/28972519

Brach, C., Dreyer, B. P., Schyve, P., Hernandez, L. M., Baur, C., Lemerise, A. J., & Parker, R. M. (2012). Attributes of a Health Literate Organization. Institute of Medicine.

Farmanova, E., Bonneville, L., & Bouchard, L. (2018). Organizational Health Literacy: Review of Theories, Frameworks, Guides, and Implementation Issues. Inquiry : A Journal of Medical Care Organization, Provision and Financing, 55, 46958018757848. https://doi.org/10.1177/0046958018757848

Sørensen, K. (2016). Making health literacy the political choice. A health literacy guide for politicians. Global Health Literacy Academy.

Sørensen, K. (2021). Health literacy champions in New Approaches to  Health Literacy. Linking Different Perspectives. Springer.


Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: Gesundheitskompetenz„Die strukturelle Gesundheitsförderung findet zu wenig Beachtung“

Fast 60 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben eine geringe Gesundheitskompetenz – so das Ergebnis der zweiten repräsentativen Studie zur Gesundheitskompetenz in Deutschland, HLS-GER 2 (Health Literacy Survey Germany 2). Auch im Bereich der Gesundheitsförderung ist die Gesundheitskompetenz gering. Wie diesen Herausforderungen begegnet werden kann, erläutert Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin und Mit-Initiator des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz (NAP).

Die Stärkung der Gesundheitskompetenz ist eines der BVPG-Schwerpunktthemen. Gesundheitskompetenz beschreibt die Fähigkeit, gesundheitsrelevante Informationen ausfindig zu machen, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden. 2018 hat der Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz (NAP) vier Handlungsfelder – Lebenswelten, Gesundheitssystem, chronische Erkrankungen, Forschung – definiert und 15 Empfehlungen zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz in Deutschland abgeleitet. Wie ist Ihre Bilanz nach fünf Jahren?

Beim Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz (NAP) muss man sich immer wieder klar machen: Es handelt sich hier um kein Programm der Bundesregierung, um keine gesetzliche Regelung. Der NAP Gesundheitskompetenz ist eine zivilgesellschaftliche Initiative, die von einer Gruppe von Wissenschaftlern mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung ins Leben gerufen wurde.

Zum fünfjährigen Jubiläum wird es auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention e. V. (DGSMP) und des Deutschen Netzwerks Gesundheitskompetenz e. V. (DNGK) am 30. August 2023 eine Bilanzsitzung geben, auf der wir zurückblicken werden, was der NAP Gesundheitskompetenz bewirkt hat.


Ihr erstes Fazit?

Weil der NAP Gesundheitskompetenz  keine Initiative der Regierung, sondern eine von Universitäten, Hochschulen, Verbänden, Institutionen, Krankenkassen ist, hatten wir keine hohen Erwartungen. Wir wurden aber positiv überrascht und können heute sagen: Der NAP Gesundheitskompetenz hat Impulse zur Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung des Themas in den Lebenswelten und dem Versorgungssektor bis zu den chronischen Krankheiten gegeben. Und er hat dafür gesorgt, dass wichtige Akteurinnen und Akteure in den Austausch getreten sind. Es haben sich Netzwerke gebildet, es ist ein reger Transfer von Wissen und Erfahrungen eingetreten. Das Thema Gesundheitskompetenz ist auf die Agenda gekommen, wurde ernsthaft diskutiert und der breiten Öffentlichkeit zugänglich. Also eine echte Erfolgsbilanz aus meiner Sicht.

Wir haben auch gelernt, dass der Begriff erklärungsbedürftig ist: Von einer „niedrigen Gesundheitskompetenz“ zum Beispiel bei Menschen mit chronischen Krankheiten  zu sprechen, ist äußerst missverständlich. Denn damit ist ja keine Defizitanzeige gemeint, sondern es wird vielmehr darauf hingewiesen, dass diese Menschen ganz besonders große Schwierigkeiten haben, sich die für ihre spezielle Situation geeigneten gesundheits- und krankheitsrelevanten Informationen zu suchen und auf ihre Bedürfnisse zu übertragen.

Alle diese Themen sind in den vergangenen fünf Jahren ins Bewusstsein gerückt, und es ist auf Bundes- und Landesebene, auf kommunaler Ebene, bei verschiedenen Institutionen und Organisationen, wie ja auch bei der BVPG eine intensive Debatte entstanden.


Der NAP hat 15 Empfehlungen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz in vier Handlungsfeldern – in den Lebenswelten, im Gesundheitssystem, bei chronischen Krankheiten und in der Forschung – formuliert. Konnten diese in die Praxis umgesetzt werden?

Ja, die Empfehlungen den NAP wurden aufgenommen und es wurden verschiedene Schritte eingeleitet, wie beispielsweise zur Fortbildung des Personals, zur Verbesserung von Informationsflüssen und zur Orientierung im Gesundheitssystem. Wir sehen zudem, dass das Thema eine weitere Durchdringung im Bereich Kita und Schule, auch am Arbeitsplatz, in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen, in Kommunen, in der Quartiersarbeit erfährt und es zu Verbesserungen kommt.


Im Bereich der Gesundheitsförderung liegt der Anteil der Bevölkerung mit geringer Gesundheitskompetenz bei fast 70 Prozent – also genau in dem Bereich, der Menschen dazu befähigen soll, ihre Gesundheit zu stärken, um so beispielsweise chronischen Erkrankungen vorzubeugen, deren Kuration wiederum das Gesundheitssystem stark belastet. Wie lässt sich dieser Wert erklären?

Die Hauptantwort lautet: Es sind die strukturellen Rahmenbedingungen, die hinderlich sind, also die Umweltbedingungen, die verhindern, dass ein gesundheitskompetentes Verhalten stattfindet, bzw. oftmals überhaupt möglich ist. Man ist also darauf angewiesen, dass es entsprechende Angebote gibt. Der direkte Einfluss, den die Einzelne oder der Einzelner hat, auch wenn noch so motiviert ist, sich gesundheitskompetent zu verhalten, ist oftmals gering.

Wir wären sehr einseitig, wenn wir beim Konzept der Gesundheitskompetenz stehenblieben bei dem Punkt: „Das ist das individuelle Verhalten, das entscheidet, ob jemand gesundheitskompetent ist.“ Die strukturelle Gesundheitsförderung findet oft zu wenig Beachtung. Das individuelle Verhalten ist permanent beeinflusst von den Rahmenbedingen – und deren Beeinflussbarkeit ist oftmals sehr anspruchsvoll. Zugleich hängt beides eng miteinander zusammen.


Ist also die beste Gesundheitsförderung die, die man nicht merkt?

Ja, das kann man wohl sagen. Die Angebote in einer Einrichtung, zum Beispiel in einer Arztpraxis, in einem Krankenhaus, in einer Pflegeeinrichtung, müssen so sein, dass es mir ganz leicht gemacht wird, mich gesundheitskompetent zu verhalten. Folgendes Beispiel dazu: Nehmen Sie eine Grundschule mit einem Kiosk oder einer Mensa, die Angebote haben, die alle Kriterien einer gesunden Ernährung erfüllen als auch den Anforderungen der Fachgesellschaften in diesem Sektor gerecht werden, dann macht es dies für Kinder und Jugendliche einfacher, ein gesundheitsförderliches Verhalten zu entwickeln.

Hier gilt der wunderbare Satz: „Die gesunde Wahl zur einfachen Wahl machen“. Auf diese Weise würde gesundheitskompetentes Verhalten gefördert werden, denn hier wird die individuelle Entscheidung unterstützt und muss nicht gegen die Strukturen getroffen werden.


Gesundheitskompetenz ist eine wesentliche Voraussetzung gesundheitlicher Chancengleichheit: Eine geringe Gesundheitskompetenz, geprägt durch niedriges Bildungsniveau, niedrigen Sozialstatus und kultureller Fremdheit, geht oft mit ungesundem Verhalten im Bereich Bewegung und Ernährung, Übergewicht, schlechterer subjektiver Gesundheit, mehr Fehltagen am Arbeitsplatz und intensiverer Nutzung des Gesundheitssystems einher. Doch vulnerable Gruppen zu erreichen ist oftmals gar nicht so einfach.

Wir haben hier ein echtes Dilemma. Gute Ansätze lassen sich schnell einführen, wenn die Sensibilität dafür vorhanden ist. Wo also eine gute Basis da ist, verbessert sich die Situation sehr schnell. Dort hingegen, wo die Voraussetzungen nicht gegeben und schwieriger umzusetzen sind und oftmals nicht interveniert wird, verschlechtert sie sich weiter. Das ist eine große Herausforderung, die für alle Settings gleichermaßen gilt. Bei vulnerablen Gruppen ist der Weg zu einem gesundheitsförderlichen Verhalten ein besonders langer Weg. Es müssen speziell geschulte Fachkräfte und passende Programme eingesetzt werden, um hier entsprechende Erfolge zu verzeichnen.


Gibt es Beispiele in den Settings, in der Schule?

Sogenannte „Brennpunktschulen“ sind zum Thema geworden – endlich! Denn wir wissen: Der Leistungsstand von Kindern und Jugendlichen hängt eng mit deren Gesundheitszustand zusammen. So gesehen ist eine Förderung der Gesundheit auch eine Förderung der Leistung und umgekehrt. Wir müssen also noch genauer hinschauen. Mehr und mehr setzt sich in den Bundesländern durch, Indikatoren zu erfassen, wie z.B. zum Bildungsgrad der Eltern, zur Sprachkompetenz, zum Migrationshintergrund, um so zu ermitteln, welche Schule eine besonders schwierige Klientel in Bezug auf die Leistungsförderung hat. Für eine gezielte Förderung plant die Bundesregierung ab dem Schuljahr 2024/2025 das Programm „Startchancen“ bundesweit einzuführen. Es soll bis zu 4.000 Schulen in sozial herausfordernder Lage fördern. Wenn hier die angesprochenen gesundheitsförderlichen Ansätze zum Zuge kommen, dann könnte viel erreicht werden.


Nicht-übertragbare Krankheiten, die einen sehr hohen Teil der Gesundheitskosten ausmachen, sind hoch komplex, beginnend oft schleichend und sind häufig in weiteren Stadien kaum spürbar. Hinzu kommt, dass sich die Krankheiten oftmals gegenseitig verstärken. Was bedeutet das für vulnerable Gruppen und deren Gesundheitskompetenz?

Die Corona-Pandemie war ein Lehrstück, denn sie hat uns gezeigt, wie in einer Ausnahmesituation der Umgang mit Wissen über Gesundheit und Krankheit zu einer wichtigen, besser: lebenswichtigen, Kompetenz geworden ist. Wir haben gesehen, wie schwierig es für viele Menschen war, Informationen zu verstehen, die sich zum Teil widersprachen oder nicht in die gleiche Richtung gingen. Daraus folgte eine Verunsicherung in der Bevölkerung. Jedoch wurde durch die Corona-Dauerinformation das Ausmaß der Schwierigkeiten, Informationen zu verarbeiten, abgesenkt, mit der Folge, dass die Corona-spezifische Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung angestiegen ist. Die Menschen wurden so dicht und eng mit Informationen zum angemessenen Verhalten angesprochen, dass sie sich gut orientieren konnten. Aus diesen Ergebnissen können wir lernen.

Zu den nicht-übertragbaren Krankheiten haben wir die Parallele: Je komplexer die Krankheitsbilder als auch deren Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten sind, umso schwieriger sind diese zu verstehen. Sie machen es nicht leicht, gesundheitskompetent zu sein – das gilt für beide Seiten, sowohl für die Patientinnen und Patienten als auch für die Fachkreise. Im digitalen Zeitalter können beide Seiten auf demselben Informationsstand sein – und für alle ist es sehr schwierig geworden, die ständig steigende Masse von Gesundheitsinformationen kompetent einzuordnen.  

Fünf Jahre nach Erstellung des NAP lässt sich also sagen: Wir haben sehr gute Ansätze zur Stärkung der Gesundheitskompetenz in Deutschland, die Diskussion darüber ist in vollem Gange. Ich wünsche mir, dass sich weitere Vernetzungen bilden und die bereits etablierten Leuchtturmprojekte über Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in die Fläche getragen werden.


Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).

Lesen Sie dazu auch:

Beitrag von Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der BVPG, zum Positionspapier „Weiterentwicklung des Handlungsfeldes Prävention und Gesundheitsförderung“.

Interview mit Kristine Sørensen, Präsidentin der International Health Literacy Association: „Health literacy champions are in demand!“

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Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann | Seit 2019 Senior Expert am Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (fibs), seit 2009 Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School – University of Governance. Forschungsschwerpunkte: Bildung, Sozialisation und Gesundheit. Hurrelmann hat zahlreiche Lehrbücher verfasst und leitete verschiedene Familien-, Kinder- und Jugendstudien. Seit 2020 gibt er zusammen mit Simon Schnetzer die Trendstudien „Jugend in Deutschland“ heraus. Seit 2002 gehört er dem Leitungsteam der Shell Jugendstudien an.

Prävention und Gesundheitsförderung Gemeinsam Gesundheit fördern: Der neue BVPG-Vorstand stellt sich vor

Der neue Vorstand der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG) wurde am 22. Mai 2023 auf der Mitgliederversammlung für die kommenden drei Jahre gewählt. Mit diesem Blogbeitrag stellen sich die elf Expertinnen und Experten für Prävention und Gesundheitsförderung mit einem persönlichen Statement vor.

BVPG-Präsidentin Dr. Kirsten Kappert-Gonther, (1. Reihe, 1. v.l.), Mitglied des Deutschen Bundestags und amtierende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses:

„Der Koalitionsvertrag der 20. Legislaturperiode räumt dem Gedanken der Prävention im Gesundheitskapitel einen großen Stellenwert ein: Gesundheitsförderung und Prävention sollen zum zentralen Leitmotiv von Gesundheitspolitik werden.

Inzwischen gibt es auch im politischen Raum glücklicherweise mehr Aufmerksamkeit für die öffentliche Sorge um die Gesundheit aller (Public Health), aber im Handeln auf den verschiedenen Ebenen hat sich der notwendige Health in All Policies (HiAP)-Ansatz leider noch nicht umfassend etabliert. Dafür muss an den Strukturen angesetzt werden, denn Gesundheit entscheidet sich im Alltag. Unsere Gesundheitschancen stehen in engem Zusammenhang mit unseren Lebensbedingungen: Wie wir wohnen, arbeiten oder unsere Freizeit verbringen, hat einen maßgeblichen Einfluss auf unsere Gesundheit.

Das bedeutet, dass es eine gesellschaftliche und politische Aufgabe ist, möglichst gesundheitsfördernde Lebensbedingungen für alle zu schaffen. Dazu gehört zuvörderst mehr Klimaschutz. Denn die Klimakrise gefährdet die körperliche und seelische Gesundheit. Die Folgen für die seelische Gesundheit müssen wir deutlich mehr in den Blick nehmen, denn wir sehen deutlich eine Zunahme von seelischen Erkrankungen in Folge der Erderhitzung. Der Gesundheitssektor ist nicht nur betroffen von der Klimakrise, sondern hat auch die Chance viel zum Klimaschutz beizutragen. Das haben wir uns gemeinsam vorgenommen.

Als Präsidentin der BVPG möchte ich gemeinsam mit allen Beteiligten dazu beitragen, Gesundheitsförderung und Prävention als Leitgedanken der Gesundheitspolitik zu etablieren und in diesem Rahmen auch der BVPG ein Gesicht geben.“


Vizepräsident Oliver Blatt, (1. Reihe, 2. v.l.), Leiter der Abteilung Gesundheit, Verband der Ersatzkassen e.V. (vdek), BVPG-Mitgliedsorganisation:

„Die BVPG ist ein wichtiger und vernetzter Player in der Prävention. Ich möchte mich weiterhin dafür stark machen, dass die BVPG diese wichtige Rolle beibehält und weiterhin maßgeblich daran beteiligt ist, präventive Versorgung zu stärken. Die Rolle der BVPG muss auch zukünftig darin bestehen, wichtige Trends und Probleme in der Versorgung mit präventiven Leistungen frühzeitig zu benennen und konstruktive Lösungen aufzuzeigen.

Dabei kann ich auf wichtige Erfahrungen und Ressourcen aus meinem beruflichen Kontext beim Verband der Ersatzkassen e.V. (vdek) zurückgreifen. Denn auch hier bin ich mitverantwortlich dafür, dass sich die medizinische, rehabilitative und pflegerische Versorgung der GKV-Versicherten auf hohem Niveau weiterentwickelt. Leistungen zur Prävention und Gesundheitsförderung nehmen dabei einen wichtigeren Stellenwert ein.“


Vizepräsidentin Britta Susen, (1. Reihe, 3. v.l.), Leiterin des Dezernats Public Health, Bundesärztekammer (BÄK), BVPG-Mitgliedsorganisation:

„Die Bedeutung von Public Health für die Gesundheit der Menschen in Deutschland ist im öffentlichen Bewusstsein nach wie vor zu wenig verankert und Deutschland verfügt leider nicht über starke Public-Health-Strukturen. Während der COVID-19-Pandemie ist dieses Defizit offen zu Tage getreten.

Als Vizepräsidentin der BVPG sehe ich meine Rolle insbesondere in der „Scharnierfunktion“ zwischen Ärzteschaft und der breiten, vielfältigen Akteurslandschaft im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung. Nur gemeinsam kann es uns gelingen, Prävention und Gesundheitsförderung zu stärken und den Health in All Policies (HiAP)-Ansatz in allen Politikfeldern zu verankern.“


Schatzmeister Thomas Altgeld, (1. Reihe, 4. v.l.), Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e.V. (LVG & AFS), BVPG-Mitgliedsorganisation:

„Die Rahmenbedingungen für Prävention und Gesundheitsförderung werden sich mit der Umsetzung der Koalitionsvereinbarungen der aktuellen Bundesregierung deutlich verändern (Stichworte dazu sind z.B. Präventionsstrategie, Novellierung des Präventionsgesetzes und Etablierung eines Bundesinstitutes für öffentliche Gesundheit). Die BVPG hat zu allen genannten Prozessen unter der neuen Präsidentin und nach intensiven Diskussionen mit Mitgliedsorganisationen Stellung bezogen und sich in politische Entscheidungsprozesse massiv eingebracht. Diesen eingeschlagenen Weg gilt es fortzusetzen und die Umgestaltung der Rahmenbedingungen in Deutschland für mehr Prävention und Gesundheitsförderung aktiv zu befördern.“


Dr. Reinhild Benterbusch, (2. Reihe, 1. v.l.), Sächsisches Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, Referentin für gesundheitliche Prävention im Referat 51 – Grundsatzangelegenheiten der Abteilung, gesundheitliche Prävention, E-Health, Krebsregister und Mitglied der AG Gesundheitsberichterstattung, Prävention, Rehabilitation und Sozialmedizin (GPRS) der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden (AOLG):

„Gesundheitsförderung und Prävention brauchen eine stetige sowie vernehmbare horizontale und vertikale Kommunikation, das heißt, das Gewollte ist in verschiedene Richtungen zu transportieren und zu übersetzen. Das gilt natürlich auch für die umgekehrte Richtung: das Zuhören, Verstehen, Mitnehmen. Dazu möchte ich meine langjährige Erfahrung sowohl auf Ebene der Länder als auch mit der Perspektive auf unterschiedliche Gebietskörperschaften in Sachsen sowie einer Obersten Landesbehörde zur Verfügung stellen und einbringen.

Die BVPG bietet hierfür mit ihrer Satzung eine tragfähige Basis. Mit meinem Engagement möchte ich dazu beitragen, dieses Fundament zu erhalten, im besten Fall zu stärken und auszubauen.“


Dr. Mischa Kläber, (2. Reihe, 2. v.l.), Leiter des Ressorts für Präventionspolitik und Gesundheitsmanagement, Deutscher Olympischer Sportbund e.V. (DOSB), BVPG-Mitgliedsorganisation:

„Die BVPG mit ihrer bunten Vielfalt an Mitgliedsorganisationen ist für mich von zentraler Bedeutung für die Weiterentwicklung der Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland und verfügt über ein entsprechendes politisches Gewicht.

Ich möchte mich mit Leidenschaft dafür einsetzen, dass die BVPG diese zentrale Rolle behält und ausbauen kann. Dabei gilt es, wichtige Trends, aber auch Herausforderungen und Probleme zu erkennen, zu thematisieren und konstruktive Lösungen aufzuzeigen. Gesundheitsförderung und Prävention stellen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar, die mehr Kooperation, Koordination und Vernetzung der Akteure untereinander braucht, denn es gibt diverse Handlungsbedarfe im breiten Feld der Gesundheitsförderung und Prävention!“


Christine Kreider, (2. Reihe, 3. v.l.), Referentin für Prävention, Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS), BVPG-Mitgliedsorganisation:

„Prävention ist erst dann richtig gut, wenn wir zusammen daran arbeiten und sie als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstehen und umsetzen. Die Mitgliederstruktur der BVPG fördert genau dies und ermöglicht, über den Tellerrand des eigenen Arbeitsbereiches hinauszublicken. Dadurch ergeben sich andere Blickwinkel und es entstehen neue Chancen für die BVPG und ihre einzelnen Mitgliedsverbände.

Die BVPG als Plattform für die Zivilgesellschaft bildet den idealen Rahmen, um gemeinsam und somit stärker auftreten zu können. Aus der Erfahrung heraus, bei einem Dachverband der Suchthilfe (DHS e.V.) tätig zu sein, weiß ich um die Chancen, die aus so einer Struktur erwachsen.  Im Vorstand der BVPG möchte ich meine Erfahrungen und meine Perspektive auf Suchtprävention einbringen.“


Dr. Andrea Lambeck, (3. Reihe, 1. v.l.), Geschäftsführerin BerufsVerband der Oecotrophologen e.V. (VDOE), BVPG-Mitgliedsorganisation:

„Erstrebenswert wäre es aus meiner Sicht, den Bereich Ernährung in der BVPG zu stärken. Als langjährige VDOE-Vorstandsvorsitzende und jetzige Geschäftsführerin sowie durch vorherige berufliche Tätigkeiten verfüge ich über ein großes Netzwerk im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung, speziell im Bereich Ernährung.

Gerne möchte ich die Mitglieder und Kooperationspartner aus Praxis, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zielgerichtet und im Sinne des optimalen Ressourceneinsatzes zu vernetzen, nicht nur im Bereich der Ernährung, sondern in allen Handlungsfeldern der Prävention und Gesundheitsförderung. Hier sehe ich ein großes Potenzial für Synergien, welches ich gerne für die BVPG und ihre Mitglieder nutzen möchte, um letztlich weitere Strukturverbesserungen im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland zu erreichen.“


Prof. Dr. Ulrich Reininghaus, (3. Reihe, 2. v.l.), Leiter der Abteilung Public Mental Health, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit:

„Die BVPG bietet eine Plattform, die Heterogenität in den Lebensverhältnissen und deren vielfältige Auswirkungen auf die Gesundheit auf unterschiedlichen strukturellen Ebenen durch Vernetzung, Partizipation und Zusammenarbeit zu adressieren. Es ist mir ein zentrales Anliegen, die BVPG mit meiner Expertise sowie nationalen und internationalen Forschungserfahrung bei den enormen gegenwärtigen Herausforderungen und neuartigen Vulnerabilitäten in Zeiten von multiplen Krisen im Bereich der Public Mental Health zu unterstützen.

Im Vorstand der BVPG möchte ich gerne durch Beratung, Austausch und Vernetzung dazu beitragen, bei der Gestaltung und Verbesserung von Strukturen der Gesundheitsförderung und Prävention den Einfluss von gesellschaftlichen Bedingungen auf die psychische Gesundheit zu berücksichtigen.“


Prof. Dr. Dagmar Starke, (3. Reihe, 3. v.l.), Kommissarische Leiterin der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen (AÖGW), BVPG-Mitgliedsorganisation:

„Sich innerhalb der BVPG zu vernetzen und Synergien zu schaffen, den Austausch zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis zu intensivieren und als Vereinigung die Stimme gegen strukturell bedingte ungleiche und ungerechte Gesundheitschancen zu erheben, sind für mich zentrale Beweggründe für mein Engagement im Vorstand der BVPG.

Es ist mein erklärtes Ziel, den vermeintlichen Widerspruch zwischen ÖGD und Public Health aufzulösen und mich dafür einzusetzen, dass die Pandemie und der Pakt ÖGD als Chance für eine Neuorientierung der Gesundheitsdienste genutzt werden und nicht zuletzt Aufgaben der Koordination, Steuerung und Planung eine zentrale Bedeutung bekommen.“


Dr. Susanne Weinbrenner, (3. Reihe, 4. v.l.), Leiterin der Abteilung Prävention, Rehabilitation und Sozialmedizin und Leitende Ärztin, Deutsche Rentenversicherung Bund:

„Die BVPG hat in der Prävention eine gewichtige Stimme und ist in der Community sehr gut vernetzt. Damit kann sie ihre zentrale Rolle im Zusammenspiel mit allen relevanten Playern in diesem Feld wirkungsvoll einsetzen und im Sinne der Bevölkerung weiter ausbauen. Die BVPG ist in diesem Sinne eine wichtige Beobachterin und Trendsetterin, um einerseits Problem in der Versorgung mit präventiven Leistungen oder relevante Entwicklungen in der Bevölkerung frühzeitig zu benennen und andererseits potentielle Lösungen konstruktiv anzuregen.

Durch mein Engagement im Rahmen des Vorstandes kann ich die BVPG in dieser Rolle maßgeblich und engagiert begleiten. Aus meiner Perspektive kann Prävention und Gesundheitsförderung nur mit einer guten gesamtgesellschaftlichen Verankerung für unsere Bevölkerung nachhaltig spürbare Effekte erzielen. Dazu möchte ich im Rahmen des Engagements bei der BVPG beitragen, indem ich die gute Kommunikation, Vernetzung und Einbindung aller relevanten Player mit ihrer jeweiligen Zuständigkeit und Kompetenz aktiv unterstütze.“


Lesen Sie dazu auch:

Weitere Informationen zum BVPG-Vorstandsteam erhalten Sie hier.

Beitrag von Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der BVPG, zum Positionspapier „Weiterentwicklung des Handlungsfeldes Prävention und Gesundheitsförderung“.

Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung erfahren Sie hier.

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Positionspapier der BVPG zur Weiterentwicklung von Prävention und Gesundheitsförderung „Empfehlungen der BVPG zur Stärkung von Prävention und Gesundheitsförderung“

Eine größere Bedeutung von Prävention und Gesundheitsförderung kann nach Einschätzung der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG) entscheidend zu einer verbesserten Lebensqualität der Bevölkerung in Deutschland beitragen, allerdings nur, wenn das Handlungsfeld fachlich, politisch und strukturell weiterentwickelt wird. 

Gemeinsam mit ihren 136 Mitgliedsorganisationen hat die BVPG in einem partizipativen Prozess Positionen für die zukünftige Ausrichtung von Prävention und Gesundheitsförderung erarbeitet und auf ihrer Mitgliederversammlung am 22. Mai 2023 verabschiedet. Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der BVPG, erläutert das Dokument, das den politisch Verantwortlichen Empfehlungen zur zukünftigen Gestaltung von Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland geben soll.

Die grundsätzliche Forderung nach Stärkung und Veranke­rung von Prävention und Gesundheitsförderung als eines ressortübergreifenden und vor allem die Verhältnisprävention berücksichtigenden Handlungsprinzips ist zentrales und zugleich verbindendes Element der folgenden fünf Empfehlungen:

  • Das Präventionsgesetz in eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik einbinden
  • Prävention und Gesundheitsförderung als Querschnittsaufgabe weiterentwickeln und ausbauen
  • Kommunale Gesundheitsförderung weiterentwickeln
  • Digitalen Fortschritt und wertebasierte Orientierung in Einklang bringen
  • Ziele, Pläne, Strategien: Bestehendes sichten und Mehrfachentwicklungen vermeiden


  • 1. Das Präventionsgesetz in eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik einbinden

    Die bisherige Umsetzungspraxis des am 25. Juli 2015 in Kraft getretenen Präventionsgesetzes zeigt, dass durch die föderale Struktur Deutschlands die gesetzgeberischen (also verpflichtenden und ggf. sankti­onsbewehrten) Möglichkeiten des Bundes auf die (vergleichsweise engen) Aufgabenbereiche der Sozialversi­cherungsträger und insbesondere die Erbringung vorgegebener finanzieller Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung und die soziale Pflegeversicherung beschränkt sind.

    Umso wichtiger ist da­her der Health-in-and-for-All-Policies-Ansatz als der zentrale Ansatz für eine zukunftsfähige Politik. Darum wäre es sinnvoll, zukünftig alle neuen Geset­zesvorha­ben auf Bundes- und Landesebene auf ihre gesundheitlichen Auswirkungen hin zu analysieren. Da­rüber hinaus gilt es, neue Wege der Zusammenarbeit der Ministerien zu schaffen, um die sektor- und ressort­übergreifende Zusammenarbeit dauerhaft zu ermöglichen.

    2. Prävention und Gesundheitsförderung als Querschnittsaufgabe weiterentwickeln und ausbauen

    Prävention und Gesundheitsförderung sind keine weitere „Säule“ des Gesundheitswesens, sondern eine basale Voraussetzung für ein resilientes und damit zukunftsfähiges Gemeinwesen. Deshalb, so die dringende Empfehlung, darf keinesfalls am Budget für Prävention und Gesundheitsförderung gespart werden! Auch wenn sich – aus ganz unterschiedlichen Gründen – in zunehmendem Maße Engpässe bei der Finanzierung der unterschiedlichen Sozialversicherungssysteme auftun und die öffentlichen Kassen leer sind: Effekt- und zielorientierte Ausgaben für die Prävention und Ge­sundheitsförderung sind Investitionen, die helfen, menschliches Leid durch Krankheiten, Invalidität oder Pfle­gebedürftigkeit zu vermindern und langfristig die entsprechenden Ausgaben in diesen Bereichen zu senken. Darüber hinaus sind auch für weitere gesellschaftspolitische Bereiche – bei mittel- und längerfristiger Be­trachtung – sekundäre Einsparungen zu erwarten.

    Ferner kann zweifellos menschliche Gesundheit nicht mehr entkoppelt von planetarer Gesundheit gesehen werden. Dies wird gegenwärtig durch die Klimakrise deutlich. Es gilt, die vielfältigen Einflüsse des Klimawandels auf die menschliche Gesundheit in den Blick zu nehmen und gemeinsam zu handeln. Da die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels und die individuellen Ressourcen zu deren Milderung ungleich in der Bevölkerung verteilt sind, müssen neben allgemeinen Maßnahmen insbesondere Maßnahmen zur Förderung und Verbesserung ge­sundheitlicher Chancengleichheit entwickelt und zur sozialen Inklusion in den Lebenswelten des Alltags um­gesetzt werden.

    Ein weiteres Ziel muss dabei sein, die individuelle wie auch die organisationale Sicherheits- und Gesundheits­kompetenz zu stärken, damit insbesondere strukturell benachteiligte Personengruppen in die Lage versetzt werden, selbst und/oder unterstützt durch das Bildungs-, Sozial- bzw. Gesundheitssystem u. a. relevante Ge­sundheitsinformationen zu finden, zu verarbeiten und zu verstehen sowie zu angemessenen gesundheitsbe­zogenen Entscheidungen zu kommen.

    3. Kommunale Gesundheitsförderung weiterentwickeln

    Um diese Empfehlung zu realisieren, bedarf es tragfähiger Rahmenbedingungen: Prävention und Gesundheitsförderung sollten zu pflichtigen Aufgaben der kommunalen Selbstverwaltung und als Pflichtaufgaben in den Gesundheitsdienstgesetzen der Länder für den Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) verankert werden – und auch die Finanzierung von zielgruppenbezogenen Gesundheitsför­derungsmaßnahmen vor Ort muss dauerhaft gesichert sein. Strukturell betrachtet, liegt die Verantwortung dafür bei den Kommunen. Im Sinne der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung müssen Kommunen dabei aber unterstützt werden.

    Mit dem Pakt für den ÖGD hat der Bund dafür bereits den Grundstein gelegt. Darüber hinaus sollte geprüft wer­den, ob nicht auch auf das Handlungsfeld „Prävention und Gesundheitsförderung“ übertragen werden könnte, was in anderen Bereichen (Straßenbau, Hochschulbau, digitale Aufrüstung von Schulen etc.) in Sachen „Trans­ferleistungen des Bundes an die Länder und Kommunen“ bereits erprobt worden ist. So könnte der Bund Mittel für den KiTa-Ausbau, das Teilhabepaket oder gleichwertige Lebensverhältnisse zur Verfügung stellen.

    Auch die gesetzlichen Krankenkassen sollen in der kommunalen Gesundheitsförderung unterstützend wirken, indem sie z. B. den Aufbau von Strukturen im Sinne einer Anschubfinanzierung finanziell fördern. Ein positives Ergebnis der bisherigen Umsetzungen der Regelungen des Präventionsgesetzes sind die Aktivitäten des GKV-Bündnisses für Gesundheit, die konsequent auf einen Abbau strukturell bedingter sozialer und gesundheitli­cher Ungleichheit hinwirken.

    4. Digitalen Fortschritt und wertebasierte Orientierung in Einklang bringen

    Autonomie, Empowerment, Partizipation und soziale Gerech­tigkeit – an diesen Werten orientiert sich Gesundheitsförderung. Gerade mit Blick darauf gilt es also zu prüfen, wie digitaler Fortschritt so gestaltet werden kann, dass dieser dem Menschen dient bzw. ausgeschlossen werden kann, dass er ihm schadet.

    Digitale Angebote sind kein „Allheilmittel“. Es muss genau differenziert werden, in welchen Bereichen digitale Angebote tatsächlich Chancen bieten, z. B. weil sie einen niedrigschwelligen Zugang ermöglichen, aber auch, wo diese Angebote nicht greifen. Konkret ist daher neben der Qualität jeweils zu prüfen, für wen, in welcher Situation, mit welchem Ziel das Angebot ein­gesetzt wird. Daneben sollte auch immer die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, digitale, hybride und nicht-digitale Maßnahmen kombiniert – und nicht im Sinne eines Entweder-Oders – weiterzuentwickeln und anzubieten. Auch sollte die Barrierefreiheit stets berücksichtigt werden.

    5. Ziele, Pläne, Strategien: Bestehendes sichten und Mehrfachentwicklungen vermeiden

    Für die Gemeinschaftsaufgabe „Prävention und Gesundheitsförderung“ sind in Deutschland viele verschiedene Akteure zuständig. Das führt zu einer bunten und kaum noch überschaubaren Vielfalt von Aktivitäten im Handlungsfeld. Gefordert ist deshalb eine bessere Integration und Koordination der Pflichten und Aufgaben, aber auch der Finanzierungs- und Evaluierungsbedarfe auf Seiten der zahlreichen unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure und Aktivitä­ten, damit Konfliktpotentiale erkannt und Doppelentwicklungen ebenso wie Mehrfachfinanzierungen vermieden werden können.

    Das Positionspapier kann hier heruntergeladen werden (PDF).

    Lesen Sie dazu auch:

    Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der BVPG, zum Positionspapier „Eckpunkte der zur Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG) zur Weiterentwicklung des Präventionsgesetzes (PrävG)“.  

    Interview mit Dr. Rüdiger Krech, Director Health Promotion, Division of Universal Health Coverage and Healthier Populations, WHO, zum 75. Jubiläum der WHO: „Health For All – 75 years of improving public health“.

    Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung erfahren Sie hier.

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    Dr. Beate Grossmann | Seit 2016 Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG). Zuvor war sie dort als stellvertretende Geschäftsführerin, wissenschaftliche Referentin und Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig. Frau Dr. Grossmann ist Mitglied in nationalen Gremien, Autorin zahlreicher Veröffentlichungen und angefragt für vielfältige Beratungs-, Gutachtens-, Vortrags- und Moderationstätigkeiten.

    Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: ÖGD„Viel Potenzial für den ÖGD als Träger der Gesundheitsförderung“

    Der Beirat Pakt ÖGD (Beirat zur Beratung zukunftsfähiger Strukturen im Öffentlichen Gesundheitsdienst in Umsetzung des Pakts für den Öffentlichen Gesundheitsdienst) hat seine Empfehlungen zur Weiterentwicklung des ÖGD in drei Berichten veröffentlicht. Zu den Mitgliedern des Beirates gehört auch die BVPG. Dr. Johannes Nießen, Vorsitzender des Beirates Pakt ÖGD, erläutert im BVPG-Interview die geplante Neuausrichtung.

    Die Gesundheitsförderung gehört gemäß dem von der Gesundheitsministerkonferenz verabschiedeten ÖGD-Leitbild zu den Kernaufgaben des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Auf kommunaler Ebene gibt es deutschlandweit rund 400 Gesundheitsämter, die prädestiniert sind, Gesundheitsförderung vor Ort zu leben. Wie kann man sich die Umsetzung in einem „modernen ÖGD“ vorstellen?

    Von grundlegender Bedeutung bei der Förderung und dem Ausbau von Gesundheit ist die Erhöhung der gesundheitlichen Chancengleichheit. Hier muss eine Erreichbarkeit auf allen Ebenen und in allen sozialen Schichten stattfinden.

    Die Nutzung von Kooperationen und Netzwerken, wie dem gesunden Städte-Netzwerk, kann dabei einen großen Beitrag leisten. Das gesunde Städte-Netzwerk ist ein freiwilliger Zusammenschluss von Kommunen und besteht derzeit aus 92 Mitgliedern. Das Netzwerk verfolgt das Ziel, Gesundheitsförderung im alltäglichen Umfeld der Menschen zu etablieren. Hierbei soll Gesundheitsförderung beispielsweise in Quartieren, Schulen, Kitas, Familien- und Alteneinrichtungen langfristig auf- und ausgebaut werden. Das Netzwerk versteht sich als kommunale Kommunikationsstelle auf Bundesebene für den Aufbau einer lebensweltlichen Gesundheitsförderung in Städten und Gemeinden.


    Wo wurde kommunale Gesundheitsförderung bereits erfolgreich umgesetzt?

    Als Beispiele für eine gelungene Umsetzung kommunaler Gesundheitsförderung vor Ort zählen die lokalen Stadtteil-Gesundheitszentren in Hamburg, das Präventionsnetz im Bezirk Berlin Mitte, die Gesundheitsgespräche in Köln sowie auch die Hitzeaktionspläne verschiedener Kommunen.

    In Hamburg soll in Stadtteilen mit hohen Problemlagen mithilfe von sieben lokalen Gesundheitszentren die medizinische Versorgung und soziale Unterstützung verbessert werden. Die lokalen Gesundheitszentren bestehen mindestens aus einer haus- und/oder kinderärztlichen Praxis, einer modernen Form der „Gemeindeschwester“ und einer Sozialberatung. Darüber hinaus besteht eine verbindliche Kooperation mit Pflegediensten sowie gesundheitlichen und sozialen Angeboten.

    Das Präventionsnetzwerk in Berlin-Mitte hat zum Ziel, ein flächendeckendes präventives Angebot über alle Lebensphasen und Lebenssituationen im Bezirk zu organisieren. In diesem Kontext sind Schwerpunktmaßnahmen beschlossen, die für das Erreichen der nationalen Gesundheitsziele von herausragender Bedeutung sind.

    Im Rahmen der Kölner Gesundheitsgespräche können sich Kölnerinnen und Kölner über ein vielfältiges Spektrum an Gesundheitsthemen informieren. Neben entsprechenden Fachvorträgen gibt es die Möglichkeit zur Klärung offener Fragen, zur Diskussion sowie zum gemeinsamen Austausch.

    Das Verbundprojekt „Hitzeaktionsplan für Menschen im Alter für die Stadt Köln“ steht beispielhaft für die Hitzeaktionspläne verschiedener Kommunen und verfolgt das Ziel, die gesundheitlichen Risiken durch Hitzeperioden für Menschen im Alter zu minimieren und die Gesundheitskompetenz insbesondere bei alleinlebenden Menschen über 65 Jahren zu erhöhen.

    Trotz dieser gelungenen Projekte und der Beobachtung, dass in großen städtischen Gesundheitsämtern die Gesundheitsförderung als Aufgabe etabliert werden konnte, wird der ÖGD in der Breite seinem Potenzial als Träger der Gesundheitsförderung im kommunalen Kontext noch nicht vollständig gerecht. Hier bestehen weiterhin Entwicklungsmöglichkeiten.


    Der moderne ÖGD soll bürgernah sein, eingebunden in kommunale Strukturen und gemeinwohlorientiert. Erreicht man mit dieser Ausrichtung Menschen mit erhöhtem Bedarf besser?

    Durch bürgernahe Angebote wie zum Beispiel Gesundheitskioske, Gesundheitslotsen und Beratungsstellen erreicht man tendenziell alle Bürgerinnen und Bürger besser. Bei vulnerablen Gruppen zeigt sich jedoch generell eine geringere Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Durch niederschwellige Angebote sollte die Erreichbarkeit dieser Zielgruppe und Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen weiter gesteigert werden.


    Durch seine vielfältigen Zugangsmöglichkeiten ist der ÖGD besonders geeignet, gesunde Städte und Kommunen entstehen zu lassen. Welche Potenziale werden bislang noch zu wenig genutzt?

    Viele Projekte in der Prävention und Gesundheitsförderung sind leider zeitlich zu sehr begrenzt. Gerade in sozial problematischen Stadtvierteln und Regionen müssen diese längerfristig stabilisiert werden. Viele gesundheitsfördernde Ansätze benötigen eine dauerhafte Finanzierung oder müssen über einen längeren Zeitraum unterstützt werden. Mit Zwei-Jahres-Projekten ist es da oft nicht getan.


    Welche Chancen ergeben sich durch die Arbeitsbeziehungen des ÖGD innerhalb der kommunalen Behörden für eine Umsetzung von „Health in All Policies“ – neben der Stärkung des ÖGD ein weiteres Schwerpunktthema der BVPG – auf lokaler Ebene? Inwieweit kann der ÖGD eine „Mittler-Rolle“ einnehmen und zur Verringerung der Versäulung beitragen?

    Innerhalb des ÖGDs ergeben sich Chancen durch das Einbringen der Themen Gesundheit, Gesundheitsförderung und Prävention in den gesamtstädtischen Steuerungsprozess. Durch ressortübergreifende Bedarfsanalysen, Planungsprozesse und rechtskreisübergreifende Umsetzung von Maßnahmen, zum Beispiel in Kooperation mit dem Jugendamt, Amt für Soziales und Senioren, Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Amt für Umwelt und Verbraucherschutz, kann das Thema „Health in All Policies“ als ein weiteres bedeutsames Thema des ÖGD umgesetzt werden.

    Die „Kommunale Gesundheitskonferenz“ des ÖGD bietet unter Beteiligung von Politik, Selbsthilfe sowie relevanten Entscheidungsträgern des Gesundheitswesens ein Plenum für den gemeinsamen Prozess der Erörterung und Weiterentwicklung der Prävention und Gesundheitsversorgung.


    Welches Gesundheitsamt könnte deutschlandweit als Blaupause dienen und warum?

    Aufgrund der Vielschichtigkeit des gesundheitlichen Bedarfs von Personen in unterschiedlichen Lebenslagen sowie der entsprechenden Methoden- und Maßnahmenvielfalt können im Allgemeinen die Gesundheitsämter großer Städte als Blaupause genannt werden.

    Darüber hinaus können einzelne, innovative Projekte als Vorbild dienen, welche dort ansetzen, wo die Potenziale des ÖGD bislang zu wenig genutzt werden.

    So zielt beispielsweise das langfristig angelegte Projekt „aufgeweckt“ des Gesundheitsamtes des Rhein-Kreises Neuss in Kooperation mit Krankenkassen sowie mit vielfältigen Kooperationspartnerinnen und Kooperationspartnern vor Ort auf die Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendlichen in sozial benachteiligten Stadtteilen ab. Über die lange Projektlaufzeit konnten u.a. Präventionsketten ausgebaut sowie die Maßnahmen kontinuierlich auf Aktualität und Bedarf überprüft werden.


    Der dritte Bericht des Beirates fordert eine Verbesserung der Forschungs- und Lehrstruktur und empfiehlt u.a. Kooperationen zwischen Gesundheitsämtern und universitären/außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Was erhoffen Sie sich von dieser wissenschaftlich fundierten Basis im Hinblick auf Ziele und Aufgaben des ÖGD?

    Im Hinblick auf die Ziele und Aufgaben des ÖGDs erhoffe ich mir eine bessere Vernetzung von Forschung, Wissenschaft und Praxis. Im Bereich der Forschung sind die Erhebungen und Analysen zur gesundheitlichen Situation der Bevölkerung als Grundlagen der Bedarfsermittlung und Gesundheitsplanung, u.a. in Bezug auf Ressourcensteuerung und sozialkompensatorische Angebote relevant.

    Im Bereich der Wissenschaft ist eine engere Zusammenarbeit von Bund, Ländern, Kommunen und Akteuren der gesundheitlichen Versorgung und Politik notwendig. Hierbei ist es wichtig, Wissensbestände, Erfahrungsschätze und bewährte Strukturen eines sehr ausdifferenzierten ÖGDs aufzuzeigen und diese in der Praxis zu implementieren.


    Multiprofessionell und interdisiziplinär soll der zukünftige ÖGD sein. Wer wird gemäß der Personalaufwuchskonzepte gesucht? Wie wird diese Ausrichtung auch die Aus- und Weiterbildung verändern?

    Gemäß der Personalaufwuchskonzepte werden vornehmlich Hygienekontrolleure, Fachärztinnen und Fachärzte, wissenschaftliche Mitarbeitende aus dem Bereich Gesundheitswissenschaften und Public Health sowie Mitarbeitende im Bereich der Verwaltung gesucht. Eine stärkere Integration der genannten Berufsgruppen soll durch Inhalte des ÖGD in relevanten Ausbildungen und Studiengängen erfolgen.


    Der Beirat hat 2021 seine Arbeit aufgenommen und ist für die Dauer von zwei Jahren vom Bundesminister für Gesundheit im Einvernehmen mit der Gesundheitsministerkonferenz berufen worden. Diese erste Arbeitsperiode läuft nun aus. Wie geht es weiter?

    In der zweijährigen Mandatszeit hat der Beirat Pakt ÖGD drei Berichte zu folgenden Themen veröffentlicht:

    1. Empfehlungen zur Weiterentwicklung des ÖGD zur besseren Vorbereitung auf Pandemien und gesundheitliche Notlagen
    2. Empfehlungen für abgestimmte Kommunikationswege und -maßnahmen über Verwaltungsebenen hinweg in gesundheitlichen Krisen
    3. Wissenschaft und Forschung im und für einen zukunftsfähigen ÖGD

    Die drei Berichte wurden dem Gesundheitsminister am 16.03.2023 überreicht. Nun beginnt die zweite Mandatszeit des Beirates Pakt ÖGD, die bis Ende 2026 dauert. Sie ist somit angelehnt an den Zeitraum, in dem der Bund mit dem Pakt für den ÖGD vier Milliarden Euro für Personal, Digitalisierung und moderne Strukturen zur Verfügung stellt.


    Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).

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    Interview mit BVPG-Präsidentin Dr. Kirsten Kappert-Gonther MdB: „Es muss einfacher werden, einen gesunden Alltag zu leben.“

    Interview mit Prof.in Dr. Dagmar Starke, kommissarische Leiterin der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf (AÖGW) und BVPG-Vorstandsmitglied: „In einem modernen ÖGD wird Gesundheitsförderung zum Coachingprozess“.

    Interview mit Caroline Costongs, Direktorin von EuroHealthNet (EHN): „We need a systemic change to protect the wellbeing of people and planet.“

    Die Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes gehört zu den BVPG-Schwerpunkten 2021-2023. Informationen zur 21. BVPG-Statuskonferenz „Gesundheit gemeinsam fördern – die Bedeutung des ÖGD für die kommunale Prävention und Gesundheitsförderung“ finden Sie hier.

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    Dr. Johannes Nießen | Seit 2019 Leiter des Gesundheitsamtes der Stadt Köln. Zuvor Leiter des Gesundheitsamtes Bezirksamt Hamburg Altona, Mitarbeiter am Gesundheitsamt der Stadt Bonn. Vorsitzender des Beirates Pakt ÖGD (Beirat zur Beratung zukunftsfähiger Strukturen im Öffentlichen Gesundheitsdienst in Umsetzung des Pakts für den Öffentlichen Gesundheitsdienst) und Bundesvorsitzender des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD); Arzt für Allgemeinmedizin, öffentliches Gesundheitswesen und Sozialmedizin.

    Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: Digitalisierung„Settingbezogene Gesundheitsförderung und Prävention in der digitalen Transformation“

    Dem Einfluss der Digitalisierung auf die settingbezogene Gesundheitsförderung und Prävention widmet sich der neue Sammelband, herausgegeben von Prof. Dr. Christoph Dockweiler, Anna Lea Stark (u.r.) und Joanna Albrecht (o.r.), Universität Siegen. Aus verschiedenen Perspektiven werden die Auswirkungen der digitalen Transformation auf das Handlungsfeld betrachtet, u. a. aus politisch-gestaltender Sichtweise mit einem Beitrag der BVPG.

    Die Digitalisierung hat Auswirklungen auf alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche, einschließlich der Gesundheitsförderung und Prävention. Orte und Einrichtungen (nachfolgend Settings), in denen wir uns aufhalten, werden immer digitaler und zunehmend spielt sich unser Alltag auch in digitalen oder virtuellen Umgebungen ab. Dies schafft neue Herausforderungen, aber auch Ansatzpunkte und Handlungsräume für die Gesundheitsförderung und Prävention. Um diese Veränderungen hinsichtlich ihrer Wirkungen auf Gesundheit zu verstehen und mitzugestalten, ist ein gemeinsames Verständnis des digitalen Wandels sowie des Begriffs digitalisierter Settings grundlegend.

    In dem vom Verband der Privaten Krankenversicherung e.V. geförderten Forschungsprojekt Lebensweltbezogene Gesundheitsförderung und Prävention im Zeitalter der Digitalisierung befassten wir uns von November 2019 bis Januar 2022 mit der Erarbeitung einer Definition digitalisierter Settings im Kontext der Gesundheitsförderung und Prävention. Um die zentralen Erkenntnisse des Forschungsprozesses zu kondensieren und diese zusammen mit einer Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren aus dem Handlungsfeld zu diskutieren, haben wir einen Sammelband zur settingbezogenen Gesundheitsförderung und Prävention in der digitalen Transformation auf den Weg gebracht, von dem wir uns wesentliche Impulse für den aktuellen Diskurs erhoffen.

    Settings als Stellschrauben der Gesundheit

    Umgebungen, in denen wir leben, lernen, arbeiten und unsere Freizeit verbringen und in denen Einfluss auf unsere Gesundheit genommen wird, werden im Sinne der Weltgesundheitsorganisation als Settings (teils auch Lebenswelten) bezeichnet. Hierzu gehören z. B. Schulen, Betriebe, Kommunen oder Gesundheitseinrichtungen. Für die Gesundheitsförderung und Prävention sind Settings von besonderer Bedeutung, da sie eine wichtige Rolle bei der Beeinflussung des Gesundheitsverhaltens der Settingmitglieder und ihrer Gesundheitschancen spielen. Durch die Schaffung gesundheitsförderlicher Strukturen in Settings können die Gesundheit und das Wohlbefinden verbessert werden, sodass Settings relevante Orte der Gesundheitsförderung und Prävention darstellen.

    Digitalisierung verändert Settings und wie wir unser Leben darin gestalten

    Damit Settings auch im Zuge der Digitalisierung zu derartigen Möglichkeitsräumen für Gesundheit werden können, müssen zunächst die Veränderungen in Settings, insbesondere ihrer Strukturen, Kulturen, Strategien, Bereiche und Prozesse durch die Digitalisierung betrachtet werden. Das Setting Betrieb ist beispielsweise durch Telearbeit im Homeoffice sowie die Digitalisierung und Automatisierung von Prozessen zunehmend mit digitalen Technologien durchdrungen. Auch weitere Settings, wie Versorgungseinrichtungen (z. B. durch den Einsatz telemedizinischer Verfahren) sowie Bildungseinrichtungen (z. B. durch den Einsatz von E-Learning) unterliegen einem digitalen Wandel. In jedem dieser Settings entstehen neue Gesundheitschancen und -risiken und somit neue Ansatzpunkte, aber auch Herausforderungen für ihre gesundheitsfördernde Gestaltung.

    Digitalisierung als Hebel der gesundheitsfördernden Gestaltung von Settings

    Die Gesundheitsförderung und Prävention in Settings werden durch die Digitalisierung in zweierlei Hinsicht verändert. Zum einen werden neue gesundheitsfördernde und präventive Technologien in Settings eingesetzt, die stärker personalisierte Ansätze ermöglichen oder auf einen niedrigschwelligeren Zugang zu gesundheitsbezogenen Angeboten abzielen. So können z. B. mit Wearables gesammelte und mit Künstlicher Intelligenz analysierte Gesundheitsdaten für eine Individualisierung von Präventionskonzepten eingesetzt werden. Auch kann der gesamte Prozess (z. B. Problemanalyse, Maßnahmenplanung oder Evaluation) von Gesundheitsförderungsprojekten in Settings digital unterstützt werden.

    Zum anderen bedarf es neuer Konzepte der Gesundheitsförderung und Prävention, wenn digitale Technologien in Settings Einzug erhalten und dadurch einen positiven oder negativen Einfluss auf die Gesundheit der Settingmitglieder nehmen. So können beispielsweise Gesundheitsrisiken durch den Einsatz digitaler Technologien in Settings mittels Technikfolgenabschätzungen berücksichtigt und adressiert werden. Beide Entwicklungen gehen mit der Veränderung von Settingstrukturen einher, da bestehende Prozesse und geltende Rahmenbedingungen im Setting durch den Einfluss der Digitalisierung verändert werden. Es bedarf einer Rückkopplung zwischen Digitalisierung und Gesundheit, wenn sich Settings transformieren. Dies kann im Rahmen einer gesundheitsförderlichen Gestaltung der digitalen Transformation geschehen.

    Bleibende Fragen in Forschung und Praxis

    Es wird deutlich, dass sich Settings und damit auch Möglichkeiten der Gesundheitsförderung in der digitalen Transformation verändern. Bisher bleibt jedoch unklar, wie genau sich Settings in ihren Strukturen, Kulturen, Strategien und Prozessen transformieren und welche gesundheitsbezogenen Herausforderungen damit einhergehen. Auch ist fraglich, ob neue digitale oder virtuelle Umgebungen wie z. B. Social Media-Plattformen als Settings definiert werden können. Es bedarf einer operationalisierbaren Definition, die über bestehende Definitionen von digitalen Settings hinausgeht, sowie eines Diskurses zwischen beteiligten Akteurinnen und Akteuren.

    Mit unserem Sammelband stoßen wir den Diskurs an

    Im Sammelband wird von Seiten der Wissenschaft, der Praxis und der Politik reflektiert und diskutiert, was die digitale Transformation von Settings und die Verfügbarkeit neuer digitaler Tools für die settingbezogene Gesundheitsförderung und Prävention bedeuten. Die Autorinnen und Autoren geben dabei Einblicke in unterschiedliche Settings, Forschungsergebnisse und Praxiserfahrungen. Als Einstieg in den Sammelband stellen wir ein neues Begriffsverständnis digitalisierter Settings im Kontext des Settingansatzes vor.

    Der erste Teil des Sammelbandes vereint wissenschaftliche Perspektiven auf das Thema. Prof. Dr. Nadine Pieck diskutiert das vorgestellte Begriffsverständnis mit Blick auf die Digitalisierung als Lernfeld für Settings. Das digitale Betriebliche Gesundheitsmanagement wird von Prof. Dr. Gudrun Faller untersucht. Matthias Meyer adressiert Non-Profit-Organisationen als Settings und Gunnar Voß, Prof. Dr. Rahim Hajji und Ulrike Scorna präsentieren eine Studie zu E-Learning zur Minderung von Prüfungsangst in Hochschulen. Abschließend wird der Forschungsstand zu gesundheitlicher Chancengleichheit im Kontext digitaler Gesundheitsförderung/Prävention in Settings von Dr. Berit Brandes, Dr. Heide Busse, Dr. Stefanie M. Helmer und Dr. Saskia Muellmann dargelegt.

    Der zweite Teil des Sammelbandes umfasst die Praxis-Perspektive. Dr. Susanne Giel, Ludwig Grillich, Lena Köhler und Dr. Elitsa Uzunova berichten, wie Digitalisierung die Arbeit als Evaluatorinnen und Evaluatoren in der Gesundheitsförderung verändert. Mit Blick auf Pflegereinrichtungen präsentieren Eva Obernauer und Simon Lang ihre Erfahrungen mit digitalen Angeboten im Projekt „Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt®“. Markus Möckel gibt einen Einblick in das Setting der E-Sport-Vereine. Für das Setting Eingliederungshilfe berichten Dr. Dirk Bruland, Kilian Krämer, Laura Herrera Bayo und Prof. Dr. Änne-Dörte Latteck von dem Projekt „#ROOKIE“. Zuletzt wird das Projekt „Die Gesundheit Fernstudierender stärken“ zu digitalem Studentischem Gesundheitsmanagement von Prof. Dr. Christel Salewski, Jessica Kemper, Jun.-Prof. Dr. Philip Santangelo und Dr. Jennifer Apolinário-Hagen vorgestellt.

    Im dritten Teil des Sammelbandes kommen politisch-gestaltende Akteurinnen und Akteure sowie Präventionsträger zu Wort. Dr. Beate Grossmann, Dr. Uwe Prümel-Philippsen und Inke Ruhe beleuchten, wie Digitalisierung aus Sicht der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung gelingen kann. Mariella Seel, Julia Anna Deipenbrock, Jelena Sörensen und Ludwig Grillich beschreiben die Entwicklung digitaler Gesundheitsförderungsangebote für den Verband der Privaten Krankenversicherung. Wie die Digitalisierung die Arbeit der Landesvereinigung für Gesundheitsförderung Mecklenburg-Vorpommern beeinflusst, wird von Friederike Keipke und Kristin Mielke geschildert. Der Sammelband schließt mit einem Beitrag von Dr. Anja Bestmann, Marion Kiem und Dr. Stefan Winter zur Digitalisierung in der Prävention der Deutschen Rentenversicherung.


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    Interview mit BVPG-Präsidentin Dr. Kirsten Kappert-Gonther MdB: „Es muss einfacher werden, einen gesunden Alltag zu leben.“

    Interview mit Prof. Dr. Hajo Zeeb, Leiter der Abteilung Prävention und Evaluation am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS GmbH, und Keynote Speaker des Präventionsforums 2021: „Digitale Präventionsansätze partizipativ und bedarfsgerecht ausgestalten!“

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    Der Sammelband „Settingbezogene Gesundheitsförderung und Prävention in der digitalen Transformation – transdisziplinäre Perspektiven“ wird von Prof. Dr. Christoph Dockweiler, Anna Lea Stark und Joanna Albrecht, Universität Siegen, herausgegeben. Er ist Teil der Sammelbandreihe „Gesundheitsforschung. Interdisziplinäre Perspektiven“ der Nomos Verlagsgesellschaft.

    Prof. Dr. Christoph Dockweiler | Inhaber der Professur für Digital Public Health am Department für Digitale Gesundheitswissenschaften und Biomedizin an der Lebenswissenschaftlichen Fakultät der Universität Siegen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Analyse der Wirkung, Implementierung und Nutzung von Interventionen im Bereich von Digital Public Health mit Fokus auf Fragen der Nutzerorientierung und der Anwendung von Methoden der partizipativen Versorgungsforschung. Er hat Health Communication und Public Health an der Universität Bielefeld studiert und dort seine Promotion abgeschlossen.

    Anna Lea Stark | Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Professur für Digital Public Health der Universität Siegen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind digitale Gesundheitsförderung und Prävention sowie Telerehabilitation. Sie hat Health Communication und Public Health an der Universität Bielefeld studiert.

    Joanna Albrecht | Forschungsreferentin an der Professur für Digital Public Health der Universität Siegen und Doktorandin an der Gesundheitswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte sind digitale Teilhabe sowie digitale Gesundheitsförderung und Prävention. Sie hat Health Communication und Public Health an der Universität Bielefeld studiert.

    Die Professur für Digital Public Health ist am Department Digitale Gesundheitswissenschaften und Biomedizin an der Lebenswissenschaftlichen Fakultät der Universität Siegen angesiedelt. Die Professur befasst sich mit der Entwicklung, Erprobung und Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien in der Gesundheitsförderung, Prävention und pflegerischen sowie medizinischen Versorgung unter besonderer Berücksichtigung der Nutzerorientierung sowie Evidenzbasierung.

    Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: 75 Jahre WHO„Health For All – 75 years of improving public health“

    Am 7. April, dem Weltgesundheitstag, feiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit „Health For All – 75 years of improving public health“ ihr langjähriges Bestehen. Zum Jubiläum spricht Dr. Rüdiger Krech, Director Health Promotion, Division of Universal Health Coverage and Healthier Populations, WHO, über Meilensteine der letzten Jahrzehnte, Vorbilder aus anderen Ländern und die zukünftige Rolle von Prävention und Gesundheitsförderung.

    Am Weltgesundheitstag blickt die WHO mit „Health For All – 75 years of improving public health“ zurück auf die Erfolge seit dem Gründungsjahr 1948. Was waren die Meilensteine der vergangenen Jahrzehnte?

    Wir freuen uns besonders, dass laut einer aktuellen Gallup Umfrage die WHO die respektierteste Internationale Organisation ist und von den meisten Menschen auf der Welt geschätzt wird. In jedem Jahrzehnt gab es Meilensteine, bei denen die WHO mitgewirkt hat, wie beispielsweise: der Aufbau von Public Health-Infrastrukturen in den 50er Jahren; die Ausrottung der Pocken in den 60er, Anfang 70er Jahren; die Umsetzung der Konzepte für gesündere Lebensweisen in den 80er und 90er Jahren; zu sozialen Determinanten und Allgemeinem Zugang zu Gesundheitsleistungen in den 90er und frühen 2000er Jahren.

    Aber die normative Arbeit, die oftmals nicht so im Fokus der Aufmerksamkeit steht, trägt besonders zur Gesundheit der Menschen bei: ob Nahrungsmittelsicherheit, Richtlinien zur Ernährung, Arbeitsschutzrichtlinien, Zulassung von Medikamenten in etwa 100 Ländern auf der Welt, Nachtflugverbote, Wasserqualität, Verkehrssicherheit, Emissionsschutzgesetze, Richtlinien für Krankenhaussicherheit, rechtlich bindende Konventionen zur Tabakkontrolle und zu Internationalen Gesundheitsvorschriften bei Ausbruch von Pandemien – all diese nationalen Richtlinien basieren meist auf der Analysearbeit der WHO und ihren Empfehlungen.

    Unser Jubiläum sollte aber nicht nur eine Bestandsaufnahme des Erreichten sein – es soll uns auch in die Zukunft blicken lassen: Wie soll die WHO in den nächsten Jahrzehnten oder besser noch in den nächsten fünf Jahren aussehen? Wir leben in einem Jahrzehnt der Krisen, in einer Zeit, die von Unsicherheit und Wandel geprägt ist. Wie können wir helfen, diese Welt resilienter zu machen, um so mit entstehenden Krisen besser umgehen zu können? Die Notwendigkeit einer effizienten und koordinierenden globalen Institution ist so wichtig wie nie zuvor in der Geschichte der WHO!


    Wir haben in Deutschland mit ungesundem Lebensstil und dessen Folgen zu kämpfen. Durch die Pandemie hat sich dieses Problem und die gesundheitliche Ungleichheit noch verschärft. An welchen Ländern müsste sich Deutschland orientieren, um Prävention und Gesundheitsförderung wirksamer werden zu lassen – für alle Bevölkerungsgruppen und in allen Lebenswelten?

    Zunächst einmal besteht in Deutschland eine große Chancenungleichheit. Es gibt eine wachsende Zahl von Menschen, die sich sehr gesundheitsbewusst ernähren und verhalten.

    Deutschland ist gleichzeitig erstaunlicherweise aber auch oftmals das Schlusslicht in Europa, wenn es um gesunde Lebensweisen geht. Das liegt zum einen an einer derzeit schwachen Infrastruktur im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention, die eine koordinierte Public Health-Arbeit in diesen Bereichen erschwert. Zum anderen liegt es an einem laxen Umgang mit rechtlichen und fiskalpolitischen Instrumenten, die Deutschland eigentlich viel besser nutzen könnte.

    Der Anstieg an vermeidbaren chronischen Erkrankungen wird die Krise im Gesundheitssystem noch weiter verstärken. Dabei sind 65 Prozent aller Herzkreislauf- und Krebserkrankungen, Diabetes und Erkrankungen der Atemwege vermeidbar. Dazu: Die letzte Anhebung der Tabaksteuer in Deutschland liegt unterhalb des Inflationsniveaus und macht Rauchen im Endeffekt billiger, nicht teurer. Die Tabakkonzerne reiben sich die Hände.

    Aufgrund eines extrem hohen pro Kopf Verbrauchs von Zucker, der viel zu billig und überall zu haben ist, wird es in den nächsten Jahren einen weiteren starken Anstieg von krankhaft fettleibigen Menschen in Deutschland geben. Es muss ein radikales Umdenken in Deutschland stattfinden, wenn das deutsche Gesundheitssystem nicht zerbrechen soll.

    Andere Länder haben die Lobby der krankmachenden und todbringenden Industrie in der Tat besser im Griff. Von Australien, Neuseeland oder Mexiko kann man einiges lernen.


    Was bedeutet das UN-Nachhaltigkeitsziel 3 (Sustainable Development Goal 3, kurz: SDG 3) „Good Health and Well Being“ für Industrienationen wie Deutschland? Welchen Beitrag können Prävention und Gesundheitsförderung zum Erreichen dieses Zieles leisten?

    Das Ziel umfasst ja etliche Public Health-Bereiche – vom Recht auf reproduktive Gesundheit über allgemeinen Zugang zu Gesundheitsleistungen bis zu Verbesserungen im Bereich von Umwelt und Gesundheit. Aufgelistet werden aber auch konkrete Aktivitäten, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Deutschland ist hier bei vielen Aktivitäten gut aufgestellt. Aber es gibt dennoch dringenden Handlungsbedarf. So kann der Zugang zu Impfstoffen und Arzneimitteln nicht als „Charity“ verstanden werden, sondern muss auf dem Prinzip der Solidarität und auf Basis von epidemiologischen Daten erfolgen, wenn eine weitere Pandemie in diesem Jahrzehnt nicht weitaus schlimmere Folgen haben soll als die derzeitige.

    Darüber hinaus wächst die Unsicherheit der Menschen, weil sie die Vielzahl und die Tragweite der derzeitigen Krisen nicht gut einschätzen können. Gesundheitsförderung ist der Prozess, „Menschen zu befähigen, Kontrolle über ihre Gesundheit zu erlangen“. Dazu muss man Menschen befähigen, Informationen gezielter zu bekommen, einzuordnen und für den persönlichen Lebensbereich und den damit verbundenen Verhaltensentscheidungen zu nutzen. Die Gesundheitsförderung hat dazu in den letzten vierzig Jahren hervorragende Instrumente entwickelt, die jetzt breit genutzt werden sollten. „Co-design“, „Befähigungsstrategien“, „Bürgerbeteiligung“, „Gesundheitskompetenz“ und „gesundheitsförderliche Gesamtpolitiken“ sind hier nur einige – zugegebenermaßen etwas sperrige – Begriffe, die die Kernkompetenz der Gesundheitsförderung beschreiben.


    Die Stärkung der Lebenswelt-/Settingorientierung, die Förderung der Gesundheitskompetenz sowie die Verankerung von Gesundheit in allen Politikbereichen (Health in All Policies, HiAP) gehören zu den thematischen Schwerpunkten der BVPG 2021-2023. Das sind auch Inhalte, die für das WHO-Ziel #HealthForAll von Bedeutung sind.

    Absolut. Die Umsetzung von populationsspezifischen Public Health-Interventionen findet in den Lebensräumen der Menschen statt, also dort wo Menschen leben, arbeiten, spielen, googeln. So sind Schulen, Arbeitsplätze oder Städte, aber auch Regionen oder Inseln Orte, die man gesundheitsfördernd gestalten kann.

    Verstehen wir beispielsweise Schulen als Lebensraum, in dem Schülerinnen und Schüler, Eltern, Angestellte und Lehrerkräfte einen Großteil ihres Tages verbringen, wird man den Schulalltag mit den Curricula, dem Schuldesign, den Versorgungsleistungen, den Schulwegen, der Art der Entscheidungsfindung und des Schulmanagements insgesamt in den Blick nehmen und auf ihre Auswirkungen auf die Gesundheit ausrichten.

    „Health in all Policies“ ist ein Ansatz, der die möglichen Auswirkungen von politischen Entscheidungen auf die Gesundheit in den Blick nimmt. Dabei werden politische Optionen erarbeitet, die als Entscheidungshilfe dienen. Wir haben gerade bei COVID gesehen, wie stark eine Gesundheitskrise in alle Bereiche unseres Lebens eingreift.

    Wir kannten die Zusammenhänge der öffentlichen Gesundheit mit Wirtschaft, Mobilität, Abfallwirtschaft, Finanzen, Bildung, Landwirtschaft oder Sozialem. Aber wie wichtig Entscheidungen in den Bereichen Stadtplanung, Kommunikation, Logistik, Beschaffungswesen, IT Technologien oder im Kulturbereich sind, ist vielen erst jetzt so richtig deutlich geworden. Diese Erfahrungen sollten wir nun nutzen, um Gesellschaften zu schaffen, die unser aller Wohlbefinden fördern. Ich finde, dass dies ein hervorragendes politisches Ziel ist, welches wir alle gemeinsam angehen könnten!


    Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).

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    Interview mit BVPG-Präsidentin Dr. Kirsten Kappert-Gonther MdB: „Es muss einfacher werden, einen gesunden Alltag zu leben.“

    Interview mit Caroline Costongs, Direktorin von EuroHealthNet (EHN): „We need a systemic change to protect the wellbeing of people and planet.“

    Informationen zum Weltgesundheitstag 2023 und zum 75. Jubiläum der WHO finden Sie hier.

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    Dr. Rüdiger Krech | Since 2019 Director of the Department of Health Promotion at the World Health Organization (WHO) in Geneva. He heads WHO’s work on risk factors such as tobacco consumption and harmful use of alcohol and is responsible for work on health-promoting settings and programs for more physical activity. In addition to the normative work, his team supports Member States with appropriate health promotion instruments, such as health literacy, empowerment and community engagement, public health legislation and fiscal measures to design well-being societies.